"Alle schuldig", titelt Le Soir in großen Buchstaben auf Seite eins. "Urteile im Pelicot-Missbrauchsprozess in Avignon gefällt: Gericht verhängt über 400 Jahre Haft", fasst das GrenzEcho zusammen. "Ex-Mann und 50 Mittäter für Jahre ins Gefängnis wegen Vergewaltigung von französischer Gisèle", schreibt Gazet van Antwerpen. "Was hat Frankreich gelernt aus der Affäre Pelicot?", fragt De Morgen. "Das Urteil im Fall Pelicot ist ein Meilenstein im Kampf gegen sexuelle Gewalt", so Het Nieuwsblad.
51 Männer sind nun verurteilt worden, hält L'Avenir in seinem Leitartikel fest. Es hat noch mehr Täter gegeben, aber sie konnten nicht identifiziert werden. Diejenigen, bei denen das gelungen ist, sind allesamt für schuldig befunden worden. Sie müssen zwischen drei und 15 Jahren ins Gefängnis. Mit Ausnahme des Ex-Ehemanns, der das ganze Martyrium ja organisiert hat und deswegen die Höchststrafe von 20 Jahren bekommen hat.
Das Gericht ist mit den Urteilen größtenteils unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft geblieben. Das hat zu Sprachlosigkeit und zu Empörung geführt. Die Frage ist nun, welche weiteren Folgen der Prozess haben wird. Wird sich etwas ändern am Umgang mit sexueller Gewalt? Man muss es hoffen, sollte sich aber keinen allzu großen Illusionen hingeben. Denn kaum einer der jetzt Verurteilten hat seine Taten zugegeben – und das, obwohl sie auf Videos festgehalten waren. Das zeigt schon, wie lang der Weg noch ist, der vor uns liegt. Aber vor allem muss man den Mut von Gisèle Pelicot würdigen. Sie hat all den unsichtbaren und vergessenen Opfern sexuellen Missbrauchs ein Gesicht und eine Stimme gegeben, schreibt L'Avenir.
Vergewaltigungskultur
Bei den Vergewaltigern von Gisèle Pelicot handelt es sich nicht um irgendwelche Gestalten vom Rand der Gesellschaft, hebt La Libre Belgique hervor: Feuerwehrmann, Krankenpfleger, Kraftfahrer, Journalist, Väter, Ehemänner, Söhne. Sie alle haben eine Frau vergewaltigt, die zuvor unter Drogen gesetzt und damit wehrlos gemacht wurde. Sie haben das getan, weil sie geglaubt haben, dass sie das Recht dazu hatten. Damit verkörpern sie die sogenannte Vergewaltigungskultur, eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt als normal hingenommen wird. Eine Gesellschaft, in der nicht gelehrt wird, dass man nicht vergewaltigen darf, sondern in der Frauen und Mädchen eingetrichtert wird, sich nicht vergewaltigen zu lassen, prangert La Libre Belgique an.
Kaum war das Urteil gefallen, strömten sie herein, die Reaktionen aus aller Welt, kommentiert Le Soir. Selbst und besonders aus der Politik. Der Politik, die bisher ohrenbetäubend geschwiegen hatte zum Missbrauchsskandal, der weit über Frankreich hinaus für Schlagzeilen gesorgt hat. Noch immer wird Gewalt gegen Frauen oft als unwichtig abgetan. Gerade, wenn man sich stattdessen mit Dingen wie politischen Krisen und Ähnlichem beschäftigen kann. Hier muss endlich ein Mentalitätswandel stattfinden, es müssen Lehren gezogen und es muss aufgerüstet werden beim Kampf gegen sexuellen Missbrauch: Angefangen bei Erziehung und Bildung, über die Ausbildung der Polizei, mehr Nachweismöglichkeiten für Vergewaltigungsdrogen und so vielem mehr, fordert Le Soir.
Ein breiteres Muster
Zwei historische Urteile am gleichen Tag, merkt dann Het Nieuwsblad an: In Frankreich im Fall Gisèle Pelicot, in Belgien im Fall Julie Van Espen. Das Gericht erster Instanz in Brüssel hat den belgischen Staat mitverantwortlich gemacht für den Tod von Julie. Die 23-Jährige war 2019 von einem Mann vergewaltigt und ermordet worden, der im Gefängnis hätte sein müssen, es wegen der Überlastung der Justiz aber nicht war.
Oberflächlich haben die beiden Fälle nicht so viel miteinander zu tun, außer dass es um den sexuellen Missbrauch von Frauen geht. Aber da ist sehr wohl eine gemeinsame Linie: die dauernden Einsparungen bei der Justiz, die deren Arbeit immer schwieriger machen. Ja, es stimmt natürlich, dass Staaten nicht über ihre Verhältnisse leben dürfen. Aber in einigen Bereichen darf einfach nicht gespart werden. Bei der Bildung beispielsweise oder bei der Gesundheitsversorgung. Bei den Eckpfeilern unserer Gesellschaft darf nicht nur nicht gespart werden, es muss sogar dringend investiert werden. Wenn die Justiz nicht die Mittel bekommt, die sie braucht, um zu funktionieren, dann platziert man damit eine Zeitbombe unter Rechtsstaat und Demokratie. Und nimmt in Kauf, dass das Menschenleben kosten kann, klagt Het Nieuwsblad an.
Mission Julie = Mission Justiz
So traurig es auch ist, dass die Familie von Julie Van Espen diesen Prozess hat führen müssen, es ist ein Sieg, würdigt Het Laatste Nieuws. Die Toten kann man so zwar auch nicht wieder zum Leben erwecken. Aber die Familie hat den Tod von Julie so zu einem Kampf gemacht, der die ganze Gesellschaft betrifft, nämlich dem Kampf für eine bessere Justiz und mehr Gerechtigkeit. Mission Julie ist deswegen auch Mission Justiz. Der Tod von Julie darf nicht umsonst gewesen sein. Das sollten sich vor allem diejenigen zu Herzen nehmen, die gerade über eine neue Regierung verhandeln, mahnt Het Laatste Nieuws.
Das Brüsseler Gericht hat ein Urteil gefällt über das Versagen des Systems, analysiert De Tijd: Für das Gericht sind Parlament, Regierung und auch die richterliche Gewalt selbst mitverantwortlich für das, was Julie Van Espen geschehen ist. Das Urteil und dass der Staat es auch mit Demut akzeptiert, bringt etwas Läuterung. Aber wird es auch etwas bewirken? Wird es helfen können, die Justiz wieder auf den rechten Weg zurückzubringen? In den vergangenen Jahren sind zwar bereits Schritte in die richtige Richtung gesetzt worden, aber da ist noch sehr viel Luft nach oben. Noch ein Grund, warum wir so dringend eine neue Regierung brauchen, appelliert De Tijd.
Boris Schmidt