"Sind es die letzten Tage des 'cordon sanitaire' in Flandern?", fragt sich L'Avenir auf Seite eins. "Die flämischen Parteien haben innerhalb eines Monats 1,7 Millionen Euro ausgegeben", titelt Het Laatste Nieuws. "Nirgendwo sehen wir so einen Hahnenkampf wie in Mons", so die Schlagzeile von De Standaard.
Die Kommunalwahlen vom kommenden Sonntag werfen jetzt endgültig ihre Schatten voraus. In Flandern stellt sich vor allem die Frage, ob die Brandmauer gegen den rechtsextremen Vlaams Belang halten wird. Im frankophonen Landesteil will insbesondere die liberale MR alles tun, um die Sozialisten aus ihren Hochburgen zu verdrängen. Dies eben unter anderem in Mons, wo MR-Chef Georges-Louis Bouchez für das Bürgermeisteramt kandidiert.
Das Bürgermeisteramt ist kein Flexijob
La Dernière Heure prangert in ihrem Leitartikel vor allem die, so wörtlich, "große Heuchelei" an. Élisabeth Degryse in Uccle, Adrien Dolimont in Ham-sur-Heure, Jaqueline Galant in Jurbise, Ahmed Laaouej in Koekelberg, sie alle haben eins gemeinsam: Sie sind amtierende Minister beziehungsweise aussichtsreiche Kandidaten auf ein Regierungsamt. Und doch treten sie als Spitzenkandidaten in ihren Gemeinden an. Dabei weiß man jetzt schon, dass sie die Bürgermeisterschärpe bis auf Weiteres nicht tragen werden. Noch frappierender ist in Flandern der Fall Zuhal Demir. Die N-VA-Politikerin hat gerade den Eid abgelegt als neue Unterrichtsministerin. Sie hat aber angekündigt, dieses Amt niederzulegen, falls sie die Chance hat, Bürgermeisterin von Genk zu werden. Stimmenfang wie eh und je also. Und dann wundert man sich noch, dass die Wähler ihren Glauben an die Demokratie verlieren.
Het Nieuwsblad kann seinerseits aber nur von solchen Praktiken abraten. Denn was zeigen Vorwahlbefragungen? In Städten wie Löwen, Gent oder Genk sitzen die Bürgermeister fest im Sattel. Und was verbindet sie? Sie alle haben entschieden, sich ausschließlich auf ihre Gemeinde zu konzentrieren. Gegenbeispiele sieht man etwa in Aarschot, Brakel oder Kortrijk, wo die Damen und Herren Rutten, De Croo oder Van Quickenborne ja diverse Ministerämter innehatten. Das scheinen die Wähler immer ungerner zu verzeihen. Bei Kommunalwahlen muss man heute in erster Linie auf den eigenen Nabel starren. Die Menschen wollen Bürgermeister, die sich ausschließlich mit lokalen Sorgen und Nöten beschäftigen, mit Straßen, Sportinfrastruktur und Verkehrssicherheit. Früher konnte man mit der Strahlkraft illustrer Regierungsämter glänzen. Heute gilt: Das Bürgermeisteramt ist kein Flexijob.
Der Imam klopft an die Hintertür
L'Avenir sorgt sich um die Zukunft insbesondere der lokalen Demokratien. Mehr denn je gilt das geflügelte Wort, das einst Paul Vanden Boeynants geprägt hat: "Wenn alle Angewiderten weg sind, dann bleiben nur noch die Widerlinge". Man kann jedenfalls nur feststellen, dass viele Politikerinnen und Politiker abhaken. Frauen in der Politik sind nach wie vor mit Sexismus konfrontiert. Und insgesamt müssen sich Politiker mehr denn je wie punching balls fühlen. Laut einer Studie wurden schon zwei Drittel der lokalen Mandatsträger mit Beschimpfungen konfrontiert, fast ein Fünftel wurde sogar schon tätlich angegriffen. Kein Wunder also, dass sich der Eine oder die Andere das nicht mehr antun will. Die Ursachen sind vielschichtig. Als erste Schuldige werden häufig Soziale Netzwerke genannt, in denen in den letzten Jahren buchstäblich alle Dämme gebrochen sind. Das erklärt aber nicht alles. Es herrscht inzwischen ein allgemeines Misstrauen der Politik gegenüber. Wenn man das Vertrauen wieder herstellen will, dann bedarf es vor allem mehr Transparenz und mehr Bürgerbeteiligung.
Het Laatste Nieuws beobachtet in seinem Kommentar ein relativ neues Phänomen: Vor allem in den großen Städten ist ein Kampf um die Stimme der Moslems entbrannt. Einige Parteien gehen fast buchstäblich in Moscheen predigen. Das gilt für das "Team Fouad Ahidar", das ja inzwischen auch in Antwerpen antritt, das gilt auch insbesondere für die linken Parteien, allen voran die marxistische PTB. An sich ist das kein Problem. Parteien wenden sich schließlich immer an spezifische Bevölkerungsgruppen: Arbeiter, Bauern, Unternehmer… Im vorliegenden Fall ist das aber ein bisschen anders. Hier geht es nämlich in erster Linie um Religion. In einem Flandern, das sich gerade endgültig der Knute der Katholischen Kirche entledigt hat, klopft nun also der Imam an die Hintertür. Dazu nur so viel: Die Trennung von Kirche und Staat ist hierzulande vollzogen. Und so muss es auch bleiben! Davon abgesehen liegt dem Ganzen auch noch ein Denkfehler zugrunde. Die muslimische Gemeinschaft ist nämlich auch nicht monolithisch. Auch hier gibt es Arbeiter und Unternehmer, Gläubige und eher laizistisch eingestellte Menschen. Es gibt sogar Moslems, die ihre Stimme dem Vlaams Belang geben, also der Anti-Islam-Partei schlechthin.
Wie ein Zombie, der Europa heimsucht
La Libre Belgique schaut mit Sorge auf die Finanzlage der Gemeinden. Fast überall sind die kommunalen Haushaltszahlen blutrot. Insgesamt belaufen sich die Schulden der Gemeinden inzwischen schon auf über zehn Milliarden Euro. Natürlich stellt niemand die Rolle der lokalen Behörden infrage. Hier geht es schließlich um das unmittelbare Lebensumfeld der Bürger. Dennoch: So kann es nicht weitergehen. Auch die kommunalen Finanzen müssen jetzt mal systematisch durchleuchtet werden.
Le Soir schließlich wirft einen besorgten Blick auf das Nachbarland Deutschland. Die Bundesrepublik ist wieder der "kranke Mann Europas". Man hat jahrelang auf die falschen Pferde gesetzt: billiges Gas aus Russland und China als Absatzmarkt für deutsche Autos. Beides ist weggebrochen. Die deutschen Hersteller haben die Kurve hin zur Elektromobilität verpasst. Doch wie reagiert man in Berlin? Man verschließt die Augen vor offensichtlichen Problemen, mit Namen: dem enormen Investitionsstau. Während Mario Draghi der EU massive Investitionen von bis zu 800 Milliarden Euro empfiehlt, halten insbesondere die CDU und die FDP an der Schuldenbremse fest. Und die anderen EU-Staaten? Sie schweigen! Das "deutsche Modell" ist tot, und doch hört es nicht auf, den alten Kontinent wie ein Zombie heimzusuchen.
Roger Pint