"Die Angst vor einer Kettenreaktion", titelt Le Soir. "Wie groß ist die Gefahr einer Eskalation im Nahen Osten?", so die Schlagzeile von De Morgen. "Lässt sich der Iran jetzt mit in den Krieg hineinziehen?", fragt sich De Tijd.
Im Nahen Osten überschlagen sich die Ereignisse. Erst der israelische Vergeltungsschlag im Libanon als Reaktion auf einen tödlichen Raketenangriff auf den Golanhöhen. Und nur kurz danach wurde bekannt, dass mit Ismail Hanija einer der Chefs der islamistischen Terrororganisation Hamas in der iranischen Hauptstadt Teheran getötet wurde. La Libre Belgique spricht denn auch von einer "blutigen Gewaltspirale". "Die Gefahr eines großen Nahostkriegs wächst", titelt das GrenzEcho.
"Angst vor einer Eskalation", "Gefahr eines Regionalkrieges", "Beispielloser Vergeltungsschlag": Wie oft haben wir solche Worte schon schreiben müssen, meint Le Soir in einem nachdenklichen Leitartikel. Rund 300 Tage nach der schrecklichen Terrorattacke vom 7. Oktober scheinen sie irgendwie ihren Sinn verloren zu haben. Und doch erreicht der Konflikt jetzt nach dem Tod von Ismail Hanija nochmal eine neue Dimension. Der politische Führer der Hamas wurde schließlich ausgerechnet in Teheran getötet, in der Hauptstadt des israelischen Erzfeindes Iran. Die Botschaft ist eindeutig: Die israelischen Geheimdienste haben noch einmal vor den Augen der Welt demonstriert, dass sie, wenn sie wollen, egal wen egal wo töten können. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu mag jetzt endlich eine "Trophäe" präsentieren können. Das Ganze kann sich aber als Pyrrhussieg erweisen, denn der Tod von Hanija öffnet die Tür zu neuen, erheblichen Turbulenzen.
Feuerpause mit Hanija gestorben
Seit mehr als 30 Jahren eliminiert Israel seine Feinde, einen nach dem anderen, konstatiert La Libre Belgique. Das Ganze hat den beispiellosen Angriff vom 7. Oktober aber auch nicht verhindern können. Netanjahu hat immer noch nicht verstanden, dass es nicht reicht, die führenden Köpfe der diversen Organisationen zu beseitigen. Die Hamas etwa ist ein Konzept, das man nicht einfach so durch das Ausschalten von Verantwortlichen ausradieren kann. Indem die israelische Regierung aber genau das versucht, schürt sie nur weiter die Gewalt, die am Ende dann nur noch in einem totalen Krieg gipfeln kann. Israel muss seine Strategie dringend ändern.
Liquidiert hat man jetzt allenfalls die Aussicht auf Frieden, ist Het Nieuwsblad überzeugt. Die Tötung von Ismail Hanija war eine strategische Dummheit. Die Ermordung des Hamas-Führers löst kein Problem, sondern schafft nur neue. Mit der Operation hat man den Iran regelrecht gedemütigt. Teheran kann gar nicht anders als zurückzuschlagen. Hinzu kommt: Wenn Hanija auch zweifelsohne ein Extremist und ein Terrorist war, so wurde er dennoch als vergleichsweise gemäßigt beschrieben. In jedem Fall war er ein Ansprechpartner. Er war es, der hinter den Kulissen im Namen der Hamas verhandelte. Die Aussicht auf eine Feuerpause und auf die Befreiung der israelischen Geiseln ist zusammen mit Hanija gestorben. Im Grunde hat die israelische Regierung von Premier Netanjahu und seinen Falken damit nur bewiesen, dass sie nur einen Weg kennt: Den der Gewalt und noch mehr Gewalt.
Mullahs auf tönernen Füßen
Wir erleben im Nahen Osten inzwischen ein Albtraum-Szenario, glaubt De Tijd. Militärische Konflikte beginnen nicht notwendigerweise mit einer Kriegserklärung. Staaten können auch regelrecht in einen Krieg hineinschlittern. Durch die derzeit zu beobachtende Kettenreaktion der Ereignisse scheint im Nahen Osten genau das zu passieren. Die Frage aller Fragen lautet jetzt: Wie wütend wird die Reaktion der Hisbollah und des Iran ausfallen? Zwar hat niemand wirklich Interesse an einer weiteren Eskalation. Das bedeutet aber leider nicht, dass die dafür nicht eintritt.
De Morgen ist nicht davon überzeugt. Die Mullahs in Teheran befinden sich im Moment in einer heiklen Situation. Allein die Tatsache, dass Israel einen wichtigen iranischen Verbündeten ausgerechnet in der Hauptstadt Teheran liquidieren konnte, ist ja schon ein schlagender Beweis für die Schwäche des Regimes. Israel hat noch einmal eindrucksvoll gezeigt, dass man jedes Ziel im Iran treffen kann. Das gilt wohl auch für militärische Einrichtungen oder sogar Atomanlagen. So vorhersehbar eine wütende iranische Vergeltungsaktion auch sein mag, so dumm wäre sie auch. Denn der Iran hat hier viel mehr zu verlieren als nur gekränkten Stolz. Allein die Massenproteste in den vergangenen Jahren haben doch gezeigt, wie sehr die religiösen Führer inzwischen auf tönernen Füßen stehen. Dennoch muss der israelische Premier Netanjahu der Versuchung widerstehen, jetzt im Libanon eine echte zweite Front zu eröffnen. Die Hisbollah ist nämlich jetzt wesentlich besser bewaffnet als im Jahr 2016.
Externe Moderation nötig
Der Nahe Osten braucht jetzt endlich Frieden, fordert L'Echo. Die Gewaltspirale muss durchbrochen werden. Und das auf beiden Seiten. Denn was sehen wir seit mehr als 20 Jahren? Netanjahu und seine "besten Feinde" halten sich doch eigentlich gegenseitig im Amt. Hier bedarf es externer Moderation. Ein Friedensvermittler muss alle Akteure an einen Tisch bringen und eine politische Lösung wieder ins Zentrum rücken: Zwei Staaten, mit einer Garantie für ein würdiges Leben im Gaza-Streifen und für Sicherheit in Israel. Man kann nur hoffen, dass sich in den USA, in Europa, in Ägypten und in Katar Menschen guten Willens finden, die den Weg zum Frieden ebnen wollen.
Roger Pint