"Europa: Von der Leyen bleibt an der Spitze – konservative Politikerin wiedergewählt", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Ursula von der Leyen wiedergewählt durch eine Mehrheit, die von den Grünen bis zu den Konservativen reicht", titelt La Libre Belgique. "Entscheidung für Kontinuität", so Le Soir. "Ursula von der Leyen packt fünf Jahre drauf als Kommissionsvorsitzende – grüne Akzente, aber auch strengere Migrationspolitik", liest man bei De Morgen. "Trotz ihrer Wiederwahl sieht sich von der Leyen einer feindseligen Atmosphäre gegenüber", unterstreicht derweil L'Echo.
Die Rechtsextremen stellen mittlerweile rund ein Viertel der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, kommentiert Le Soir. Aber in gerade einmal drei Tagen haben sie schon bewiesen, was für ein schmerzhafter Stachel sie sein können im Fleisch Europas – von der Unterstützung von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine über den unverhohlenen Hass auf Migranten bis hin zu ihrem Kampf gegen das Recht auf Abtreibung. Ursula von der Leyen hat also Recht, wenn sie sagt, dass die Demokratie bedroht ist – sowohl von außen als auch von innen und selbst von innerhalb des Parlaments. Die Kommissionspräsidentin hat auch Recht, wenn sie betont, dass sie nie hinnehmen werde, dass Demagogen und Extremisten die Lebensweise der Europäer zerstören wollen. Sie hat auch Recht, wenn sie alle demokratischen Kräfte zum gemeinsamen Kampf aufruft. Bisher hat die demokratische Front im Europäischen Parlament gehalten. Aber dieser Deich muss sich die kommenden fünf Jahre bewähren, mahnt Le Soir.
Europa muss liefern
Ursula von der Leyen hat es geschafft, die Konservativen zu überzeugen, die Sozialisten, die Liberalen, die Zentristen, die Grünen und selbst eine kleine Gruppe von Rechtsnationalisten, hält La Libre Belgique fest. Die Evolution der politischen Landschaft in Europa zwingt die Parteien zu teilweise seltsam anmutenden Koalitionen. Eine Situation, wie wir sie in Belgien nur allzu gut kennen, und eine Lektion, die Frankreich gerade schmerzhaft lernen muss. Der Deich im europäischen Halbrund hat gehalten, aber es werden fünf Jahre voller Spannungen werden. Es wird sehr schwierig werden, Kompromisse im Europäischen Parlament zu finden, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner hinausgehen. Die Lage im Europäischen Rat ist kaum erfreulicher. Denn in immer mehr Regierungen sind Rechtsextreme vertreten, wenn sie sie nicht schon leiten. Gleichzeitig steht die Europäische Union vor enormen Herausforderungen. Mehr denn je muss sie beweisen, dass sie liefern kann, das ist der beste Schutz gegen die Rechtsextremen, appelliert La Libre Belgique.
Es war nicht selbstverständlich, dass sich von der Leyen durchsetzen würde, erinnert De Tijd, und das für ihre Wiederwahl notwendige Geschacher ist auch sicher kein Ruhmesblatt. Aber es ist gut, dass sie auch die nächsten fünf Jahre die mächtigste Institution der Europäischen Union leiten wird. Denn sie hat mehr als bewiesen, der Aufgabe selbst in schwierigsten Zeiten gewachsen zu sein. Sie hat die EU durch die Pandemie gelotst, durch den Beginn des großangelegten russischen Angriffskriegs, durch den Energieschock und sie hat – ausgerechnet als Deutsche – auch eine Lockerung der Schuldenregeln erlaubt. Und sie hat auch verstanden, dass die Umweltregeln angepasst werden müssen. Damit hat sie ihre Eignung bestätigt für eine Welt, in der sich Europa Putin, möglicherweise Trump und auch China gegenübersieht. Sie hat ihren moralischen Kompass jüngst auch wieder gezeigt, als sie Viktor Orbáns Besuch in Moskau verurteilt hat, unterstreicht De Tijd.
Von der Leyen trägt eine riesige Verantwortung
Dass von der Leyen über Parteigrenzen hinweg Unterstützung mobilisieren konnte, das ist eine gute Nachricht für die Stabilität der Europäischen Union, hebt De Morgen hervor. Von der Leyen hat erklärt, dass Europa an einem wichtigen Scheideweg steht: Entweder wir werden ein Global Player oder wir werden hinweggefegt werden. Das zu verstehen ist eine Sache, nun muss das aber noch umgesetzt werden in unter anderem eine schlagkräftige Kommission. Europa wird zum Beispiel zum ersten Mal einen Kommissar für Verteidigung bekommen. Zu seinen Aufgaben wird gehören, unsere industrielle Verteidigungspolitik auf Vordermann zu bringen. Wobei schon jetzt die Frage ist, ob wir es noch schaffen können, uns rechtzeitig auf eine Welt vorzubereiten, in der die Amerikaner unter Trump nicht nur die Ukraine, sondern die ganze Nato militärisch im Stich lassen könnten. Von der Leyen wird einen Balanceakt hinlegen müssen zwischen fordernden, ihr nicht unbedingt freundlich gesinnten EU-Staaten, einer verunsicherten Bevölkerung und einer Außenwelt voller Bedrohungen, in der uns die Russen militärisch unterwerfen und die Chinesen uns aufkaufen wollen. Die Europäische Kommission steht möglicherweise vor der schwersten Prüfung ihrer Geschichte. Da wird kein Platz sein für interne Streitigkeiten und Kräftemessen wie bei der letzten Amtszeit von der Leyens. Sie trägt eine riesige Verantwortung, so De Morgen.
Wird Biden beiseitetreten?
Gazet van Antwerpen beschäftigt sich in ihrem Leitartikel mit Joe Biden: Wird er dann doch beiseitetreten und den Weg frei machen für einen besser gerüsteten oder zumindest vitaleren demokratischen Präsidentschaftskandidaten? Dann könnte es auch endlich wieder um Politik gehen, anstatt immer nur um die Frage, ob Biden durchhalten kann. Allein das wäre schon ein enormer Gewinn. Aber auch sonst wäre ein Rückzug Bidens nicht nur für die Vereinigten Staaten gut, sondern auch für den Rest der Welt. Denn der Führer einer Weltmacht wie den USA bestimmt in großem Maße mit, was im Rest der Welt passiert. Das gilt auch im von Putin bedrohten Europa. Mit Trump und seinem Running Mate Vance wissen die Europäer, dass sie nicht mit viel Unterstützung gegen die Russen rechnen können, konstatiert Gazet van Antwerpen.
Es ist schon fast wie in einer Seifenoper, wirft L'Avenir ein: Nur wenige Stunden bevor Joe Biden positiv auf Corona getestet wurde, hat er selbst in einem Interview gesagt, dass er sich zurückziehen könnte im Fall eines medizinischen Problems. Dabei hatte Biden sicher nicht Corona im Sinn. Aber wäre das nicht trotzdem eine goldene Ausstiegsmöglichkeit für den Präsidenten nach einer erfüllten Karriere? Ja, es wäre eine Premiere. Aber andererseits ist auch seine fatale Diskreditierung der demokratischen Kampagne eine Premiere. Vier Monate vor den Wahlen herrscht nicht nur bei der demokratischen Partei Panik. Denn wenn Biden sich erkältet, sind es nicht nur die Demokraten, die husten, so L'Avenir.
Boris Schmidt