"Der Abbé Pierre wird der sexuellen Übergriffe beschuldigt", titeln Le Soir und La Dernière Heure. "Und das 17 Jahre nach seinem Tod", fügt L'Avenir auf Seite eins hinzu. La Libre Belgique spricht vom "Sturz einer Ikone".
Henri Antoine Grouès, besser bekannt unter dem Namen Abbé Pierre, war vor allem im frankophonen Sprachraum wirklich eine Ikone. Der Kapuzinerpater hatte sich während des Zweiten Weltkrieges in der französischen Résistance engagiert und gründete später die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus. Der Mann, der meist eine Sutane und eine Baskenmütze trug, galt als Fürsprecher der Armen und war unglaublich populär. 30 Jahre lang stand er im südlichen Nachbarland auf Platz eins der Hitparade der beliebtesten Franzosen. 2007 war er im Alter von 94 Jahren gestorben. Vor einigen Jahren waren Vorwürfe bekannt geworden, wonach Abbé Pierre sexuell übergriffig geworden sei. Die von ihm gegründete Organisation gab eine Untersuchung in Auftrag. Sieben Frauen haben ihr Schweigen gebrochen und gegen ihn ausgesagt.
Eingeholt von der Vergangenheit
17 Jahre nach seinem Tod wird Abbé Pierre nun also doch noch von seiner Vergangenheit eingeholt und regelrecht entweiht, hält L'Avenir in seinem Leitartikel fest. Die Aussagen der betroffenen Frauen gehen alle in dieselbe Richtung, überschneiden sich förmlich. Das Bild, das so entsteht, wird denn auch von niemandem wirklich in Zweifel gezogen.
Bemerkenswert: Vor zehn oder 15 Jahren wäre all das wahrscheinlich unter den Teppich gekehrt worden. Dies erst recht, weil der Täter im vorliegenden Fall schon 17 Jahre tot ist und ohnehin nicht mehr belangt werden kann. Entsprechend ehrt es die Organisation Emmaus und auch die Stiftung Abbé Pierre, dass sie die Vorwürfe dennoch aufgearbeitet haben und insbesondere auch die Opfer zu Wort kommen ließen. Sogar auf die Gefahr hin, dass ihr Gründer beziehungsweise Namensgeber vom Sockel gestoßen wurde. Diese Organisation haben das getan, was so viele andere in der Vergangenheit nicht geschafft haben. Dafür gebührt ihnen uneingeschränkte Anerkennung.
Kein Plan B in Sicht
Auch La Libre Belgique blickt nach Frankreich, beschäftigt sich aber ihrerseits mit der innenpolitischen Lage im Nachbarland. Wir sehen hier ein wirklich jämmerliches Schauspiel, beklagt La Libre. Nach der Parlamentswahl ist das politische Patt schlimmer denn je. Die verschiedenen Blocks haben sich noch tiefer in ihren Positionen eingegraben; jeder hält sich für den Sieger und will alleine den Ton angeben. "Liebe französische Freunde, nehmt euch – wenn auch nur für einmal – ein Beispiel an euren belgischen Nachbarn! Sucht nach Kompromissen! Rauft euch zusammen! Einen Premierminister ohne parlamentarische Mehrheit zu ernennen, das hat einfach keinen Sinn. Eine politische Dauerblockade kann und darf niemandem gefallen."
L'Echo beschäftigt sich mit der für heute vorgesehenen Abstimmung im EU-Parlament über den Vorsitz der EU-Kommission. Einzige Kandidatin ist Ursula von der Leyen, die sich für ihre Wiederwahl bewirbt. Der Ausgang der Abstimmung ist allerdings offen, da Teile der Zentrumskoalition in der Straßburger Versammlung der deutschen Christdemokratin aus diversen Gründen die Unterstützung verweigern.
Die Abgeordneten sollten jetzt aber auf ihre Vernunft hören, meint das Blatt. Es gibt nämlich keinen Plan B. Sollte Ursula von der Leyen nicht wiedergewählt werden, dann würde die EU geradewegs in eine politische Sackgasse schlittern. Bei aller Kritik an der scheidenden Kommissionsvorsitzenden, die in Teilen wohl auch berechtigt ist: Ein politisches Chaos kann sich die EU im Moment schlicht und einfach nicht erlauben.
Sehr bald sehr alleine
Dies erst recht, wenn man in diesen Tagen auf die USA schaut, scheint De Standaard einzuhaken. Die Rede von J.D. Vance, Trumps Kandidaten für den Posten des Vizepräsidenten, gestern beim Parteitag der Republikaner, sprach Bände. Für den jungen Hardliner spielt Europa schlicht und einfach keine Rolle. Die Befindlichkeiten in Brüssel, Berlin und Paris sind für ihn bestenfalls nebensächlich. Nicht zuletzt deswegen würde er wohl auch einem russischen Diktatfrieden in der Ukraine zustimmen. Die potenziellen Folgen für den alten Kontinent interessieren ihn nicht. Für Trump und Vance wären das schlicht und einfach europäische Problemchen. Sollte dieses Duo die Präsidentschaftswahl gewinnen, dann ist eine Schwächung Europas unvermeidlich.
Der Kommentar von Gazet van Antwerpen liest sich wie ein Fazit: Es läuft nicht gut auf dem europäischen Kontinent. Die Niederlande haben mit Ach und Krach eine Regierung auf die Beine gestellt, die allerdings alles andere als stabil ist; in Belgien sieht es etwas besser aus, wobei der Weg noch lang ist; Frankreich ist bis auf Weiteres unregierbar; und die Wiederwahl von Ursula von der Leyen hängt wenige Stunden vor der Abstimmung noch am seidenen Faden. Parallel dazu geht Viktor Orbán im Namen der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft bei den Diktatoren in Moskau und Peking Klinken putzen. In den USA wird eine zweite Amtszeit von Donald Trump derweil mit jedem Tag wahrscheinlicher.
Europa könnte also schon sehr bald sehr alleine sein, eingeklemmt zwischen einem vollkommen unberechenbaren Trump im Westen und einer ebenso unberechenbaren Allianz zwischen Putin und Xi Jinping im Osten. Und das zu allem Überfluss mit einem Krieg vor seiner Haustüre. Europa muss sich denn auch schnellstens besinnen. Der Alte Kontinent braucht Geschlossenheit, stabile Regierungen in den großen Ländern, die optimal zusammenarbeiten. Gerade jetzt kann sich die EU keine Unentschlossenheit und kein Chaos erlauben.
Roger Pint