"Für Regierungsbildner Bart De Wever tauchen erste Hindernisse auf", titelt De Standaard. Gestern haben ja die eigentlichen Koalitionsverhandlungen mit Blick auf die Bildung einer neuen Föderalregierung begonnen. Doch gleich zum Auftakt gab es Misstöne: Drei der fünf Parteien übten scharfe Kritik an der Arbeitsmethode von Regierungsbildner Bart De Wever. Der habe zu einseitig Inhalte seiner Partei in den Vordergrund gestellt, bemängelten die Zentrumsparteien CD&V und Les Engagés und auch die flämischen Sozialisten Vooruit. Der N-VA-Chef wird seine Methode also ändern müssen.
"De Wever will voll auf Kernenergie setzen", so derweil die Aufmachergeschichte von De Morgen. Der Regierungsbildner will offenbar sogar den Bau neuer Kernkraftwerke durchsetzen. Da gibt es nur ein Problem, und das steht auf der Titelseite der beiden Wirtschaftszeitungen L'Echo und De Tijd: "Engie gibt der neuen Regierung wenig Aussicht auf mehr Kernenergie", schreiben beide Blätter. Der Energiekonzern will sich demnach so schnell wie möglich von der Atomenergie verabschieden. Wenn die neue Koalition wirklich ein Comeback der Kernenergie anstreben will, dann müsse sie sich wohl einen neuen industriellen Partner suchen, glauben beide Blätter.
Keuschheit und Enthaltsamkeit?
Für Diskussionsstoff sorgt aber vor allem ein offener Brief des Vooruit-Spitzenpolitikers Conner Rousseau. Der hatte gestern in De Tijd scharfe Kritik an den neuen EU-Haushaltsregeln geübt. Ein allzu drastischer Sparkurs sei Gift für das Wirtschaftswachstum, so sinngemäß die Meinung des flämischen Sozialisten.
Das Eine schließt das Andere nicht aus, ist derweil De Standaard überzeugt. Früher oder später fallen einem die Schulden immer auf die Füße. Man kann nicht bis in alle Ewigkeit den künftigen Generationen die Rechnung zuschustern. Es ist zudem scheinheilig, so zu tun, als ob die EU-Haushaltsregeln per se wachstumsfördernde Maßnahmen verhindern. Die Arizona-Partner sollten ihre Kreativität auf Strukturreformen richten und nicht auf mögliche Hintertüren, um den EU-Stabilitätspakt zu umgehen.
Het Laatste Nieuws sieht das genauso. Conner Rousseau plädiert dafür, strategische Investitionen aus dem Haushalt herauszurechnen. Er vergisst dabei aber, dass Schulden immer Schulden bleiben. Zudem ist das ein dehnbarer Begriff: Wer will, der kann alles als eine "strategische Investition" betrachten. Am Ende sind die Beträge, die aus dem Haushalt herausgerechnet werden, höher als das eigentliche Budget. Das erinnert irgendwie an ein Zitat des heiligen Augustinus: "Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, aber jetzt noch nicht".
EU-Haushaltsregeln: Pro und Contra
Die von Rousseau aufgeworfene Frage ist aber berechtigt, glaubt De Tijd. "Wie kann man vermeiden, dass die von der EU auferlegten Sparmaßnahmen am Ende die nötigen Investitionen in die Zukunft abwürgen?", darüber kann man tatsächlich diskutieren. Der von Conner Rousseau vorgeschlagene Weg ist dafür aber trotzdem falsch. Investitionen einfach aus dem Haushalt auszuklammern, das löst nämlich kein Problem, bestimmt nicht in einem Land, in dem sich die Staatsschuld auf 106 Prozent des Bruttoinlandsproduktes beläuft. Insbesondere die belgische Haushaltslage ist nicht nur problematisch, weil die EU das so sieht. Es muss doch jedem einleuchten, dass man nicht ständig alles auf die künftigen Generationen abwälzen kann. Dass Belgien inzwischen keinerlei Puffer mehr hat, um Krisen abzufedern, das ist doch der beste Beweis dafür, dass die bisherige Politik auch nicht alle Probleme löst.
Het Belang van Limburg sieht das anders. Es ist unbegreiflich, dass die EU an ihren strengen Haushaltsvorgaben festhält, meint das Blatt. Die neue EU-Kommission wird einsehen müssen, dass strategische Investitionen das Wachstum von morgen garantieren. Länder wie die USA oder China machen es doch vor. Um es mal mit der italienisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato zu sagen: "Sparen, um zu wachsen, das ist das Dümmste, was man machen kann."
Ein Omen für die Zukunft?
"Mag ja alles sein", bemerkt aber Gazet van Antwerpen. Über den Inhalt des offenen Briefes von Conner Rousseau kann man tatsächlich leidenschaftlich, abendfüllend diskutieren. Das Problem ist hier aber das Timing. Es war – gelinde gesagt – unangemessen, dass Conner Rousseau seinen offenen Brief ausgerechnet zum Auftakt der Koalitionsverhandlungen veröffentlicht hat. Und es war einfach nur falsch, sich bei der Gelegenheit auch noch über die Politik der beiden künftigen frankophonen Partnern auszulassen; Rousseau hatte ja das Regierungsabkommen von MR und Les Engagés im frankophonen Landesteil sinngemäß als "heiße Luft" bezeichnet. Rousseau wollte wohl noch einmal klarmachen, dass die flämischen Sozialisten ihre Haut teuer verkaufen wollen. Ok! Das aber bitte ab jetzt mit der gebotenen Diskretion!
Het Nieuwsblad schlägt in dieselbe Kerbe: Rousseau mag sich da durchaus berechtigte Fragen stellen, doch ging es hier wohl nicht in erster Linie um den Inhalt. Die Botschaft des Vooruit-Spitzenpolitikers war wohl viel mehr rein politischer Natur. Als einzige wirkliche Mitte-Links-Partei innerhalb des Arizona-Verbunds wollten die flämischen Sozialisten offensichtlich nochmal Flagge zeigen. Und, wer weiß? Vielleicht ist das schon ein Omen für die Zukunft. Womöglich will Vooruit in den kommenden Jahren einen Fuß drinnen und einen Fuß draußen haben. Das wäre dann so etwas wie die sozialistische Version von Georges-Louis Bouchez.
Roger Pint