"360 Millionen Europäer sind zur Wahl aufgerufen", titelt Le Soir. "Eine EU-Wahl vor dem Hintergrund unbequemer Fragen", schreibt L'Echo auf Seite eins.
In einigen EU-Staaten beginnt heute schon die Wahl zum EU-Parlament. Bis zum kommenden Sonntagabend wird das europäische Halbrund neu zusammengestellt. Die ehrwürdige Institution war zuletzt von einigen Skandalen erschüttert worden, allen voran Katargate, aber auch die Affären um chinesische beziehungsweise russische Einflussnahme. Allgemein wird ein Vormarsch rechtsextremer und europafeindlicher Parteien befürchtet.
Jede Stimme für Rechtsextremisten ist ein Stein im Schuh der Europäischen Union, warnt La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. 45 Jahre nach der ersten Direktwahl des EU-Parlaments droht dem Halbrund wohl bald eine Gefahr von innen. Zwar werden die Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen, die allesamt den europäischen Integrationsprozess unterstützen, wohl auch in Zukunft weiterhin in der Mehrheit sein. Die Populisten und Rechtsextremisten werden aber mit jeder Wahl zahlreicher, was wohl auch die Arbeit des Parlaments immer komplizierter machen dürfte. Vor allem könnte sich die Schlagkraft des Parlaments verringern, was in diesen unruhigen Zeiten bestimmt keine gute Neuigkeit wäre. Jede Stimme für die falschen Propheten und Rattenfänger vom rechten Rand beeinträchtigt die Funktionsweise der Institution. Nur, damit die Wähler das nochmal wissen.
Plädoyers für eine Entkoppelung der Wahlen
L'Echo sieht das ähnlich. Umfragen prognostizieren eine braune Welle. Rechtsextremisten und Populisten ist es offensichtlich gelungen, auf der Welle der Angst zu surfen und so viele Wähler für sich zu gewinnen. Dass die demokratischen Prozesse innerhalb der EU komplex und manchmal schwer verständlich sind, hat ihnen da durchaus in die Karten gespielt. Eine Stimme für diese EU-skeptischen Parteien, das ist eine Stimme für weniger Europa, zugunsten der illiberalen und autokratischen Regime, deren einziges Ziel es ist, die Rechte und Freiheiten ihrer Bürger zu beschneiden.
Auch vor diesem Hintergrund liest man heute einmal mehr Plädoyers für eine Entkoppelung der Wahlen in Belgien. Diesmal hält es Het Nieuwsblad. Hier wird in diesen Tagen alles in einen Topf geworfen, beklagt das Blatt. Bei den diversen TV-Duellen kommt die ganze Bandbreite an Themen zu Wort, ob sie nun auf der föderalen, der regionalen oder der Gemeinschaftsebene angesiedelt sind. Und bei alledem bleibt dann am Ende die Europawahl gänzlich außen vor.
Dass man alle Wahlen zusammengelegt hat, dafür mag es mal gute Gründe gegeben haben. Man wollte vermeiden, dass sich das Land in einem Zustand permanenten Wahlkampfes befand. Wegen der Sozialen Medien ist das jetzt aber ohnehin der Fall. Deswegen und im Sinne der Lesbarkeit sollte man die Wahlen wieder getrennt voneinander stattfinden lassen. In einer Demokratie sollte man in jedem Fall vor Wahlen keine Angst haben.
Tom Van Grieken und die angebliche "Gender-Ideologie"
Einige flämische Zeitungen beschäftigen sich mit einem Wahlkampfthema, das der rechtsextreme Vlaams Belang in den letzten Tagen aufgeworfen hat. Es gebe nur zwei Geschlechter, nämlich Männer und Frauen, hatte der Vlaams-Belang-Vorsitzende Tom Van Grieken erklärt. Er klagte dabei offen über eine angebliche "Gender-Ideologie".
Solche Aussagen sind gefährlich, ist Gazet van Antwerpen überzeugt. Der Vlaams Belang macht aus einem individuellen, menschlichen Gefühl eine angebliche ideologische Bedrohung. Nochmal zur Erinnerung: Sich mit seiner sexuellen Identität zu beschäftigen, in einem Körper gefangen zu sein, den man hasst, festzustellen, dass man sich in der binären Zweiteilung in Mann und Frau nicht einordnen kann, das ist für viele Menschen ein Leidensweg, oft begleitet von schweren psychischen Problemen. Seit einigen Jahren gibt es dafür vermehrte Aufmerksamkeit in unsere Gesellschaft. Und das ist gut so.
Menschen, die derlei Zweifel nicht kennen, die reagieren mitunter irritiert, nach dem Motto: Was ist denn falsch daran, ein gewöhnlicher Mann beziehungsweise eine gewöhnliche Frau zu sein? Nichts ist daran falsch! Aber der Vlaams Belang instrumentalisiert jetzt diese Fragen und Ängste, macht den Menschen weis, dass "echte" Männer und Frauen von irgendeiner Ideologie bedroht seien. Vielleicht gewinnt man damit Stimmen. Das sorgt aber vor allem für Polarisierung und Intoleranz.
Am Ende wird der Wahlkampf doch noch prickelnd
Gestern hat Tom Van Grieken dann aber noch einen draufgesetzt, ärgert sich De Morgen. Der Vlaams-Belang-Vorsitzende griff die Groen-Politikerin Petra De Sutter frontal an. Für ihn sei De Sutter biologisch immer noch ein Mann, sagte Van Grieken. Dazu nur so viel: Ja, natürlich gilt auch für Van Grieken das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber, wenn jemand einen anderen Menschen derartig beleidigt und sogar in seiner persönlichen Identität kränkt, dann muss auch folgende Aussage erlaubt sein: Dann ist Tom Van Grieken biologisch ein Arschloch. Zugegeben: Man sollte sich nicht zu persönlichen Beschimpfungen hinreißen lassen. Diese hier ist auch mit einem Augenzwinkern versehen. Bei Van Grieken ist das nicht der Fall. Er spielt auf den Mann beziehungsweise auf die Frau. Das beweist jedenfalls noch einmal, dass dem Vlaams Belang keine Grenze heilig ist.
Der Vlaams Belang macht mit alledem den Mitte-Rechts-Parteien aber ein unerwartetes Geschenk, analysiert De Standaard. Und ein schönes Geschenk noch dazu. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums ist zuletzt einiges in Bewegung geraten. Man kann allerlei Annäherungen erkennen: Zwischen Flamen und Frankophonen, wenn etwa Les Engagés und die MR positive Signale in Richtung der N-VA aussenden; und auch in Flandern selbst, wo sogar Bart De Wever und Alexander De Croo sich fast schon wieder die Hand gereicht haben. Sogar ein mögliches Regierungsprogramm scheint schon Konturen anzunehmen. Haushaltssanierung, Steuerreform, Migration: Hier deuten sich Schnittmengen an.
Und genau vor diesem Hintergrund begeht der Vlaams Belang hier einen himmelschreienden taktischen Fehler: Die rückwärtsgewandten und radikalen Aussagen über eine angebliche "Gender-Ideologie" machen es den anderen Parteien leicht, die Rechtsextremen in die Ecke zu stellen und selbst sogar noch Wärme auszustrahlen. Der Wahlkampf wird am Ende doch noch prickelnd.
Roger Pint