"Fast jeder fünfte Wähler ist nach wie vor unentschlossen", titeln De Morgen und L'Avenir. Vier Tage vor der Wahl weiß ein Fünftel der Wähler immer noch nicht, wem sie ihre Stimme geben wollen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die verschiedene Universitäten aus dem Norden und dem Süden des Landes durchgeführt haben. Das Wahlergebnis vom Sonntag muss also nicht deckungsgleich sein mit den jüngsten Umfragen…
"Vooruit wendet sich von De Croo ab", schreibt derweil Gazet van Antwerpen auf Seite eins. Die flämischen Sozialisten würden vielmehr den N-VA-Vorsitzenden Bart De Wever als Premier bevorzugen. Zuvor war Vooruit auch schon auf Distanz zur wallonischen Schwesterpartei PS gegangen.
Die Sozialisten sind längst nicht mehr eine geeinte Familie, kann La Libre Belgique in ihrem Leitartikel nur feststellen. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass die Roten aus dem Norden und aus dem Süden des Landes unterschiedliche Wege einschlagen. Die PS war seinerzeit Teil der Leterme-Regierung, die damalige sp.a ging in die Opposition. Wirklich verwunderlich ist das Ganze nicht. Schaut man sich den Wahl-O-Mat an, dann stellt man fest, dass sich die beiden sozialistischen Parteien bei gut einem Viertel der Fragen nicht einig sind. Dennoch ist es diesmal etwas anders. Man könnte meinen, dass Vooruit die PS wie ein Klotz am Bein betrachtet. Der Ruf der frankophonen Sozialisten in Flandern war noch nie so schlecht. Vooruit will offensichtlich nicht mit den Kollegen aus dem Süden des Landes in einen Topf geworfen werden.
Het Laatste Nieuws kann das nachvollziehen. Es ist – zumal in Flandern – nicht unlogisch, sich als moderne linke Partei nicht allzu sehr an die PS zu binden. Die frankophonen Sozialisten spüren den heißen Atem der marxistischen PTB im Nacken, was sie nur noch rückwärtsgewandter macht. Tiefgreifende Reformen etwa am Arbeitsmarkt werden damit schwierig bis unmöglich. Die Frage ist allerdings, ob es für Vooruit wirklich so klug wäre, sich alleine an einer Mitte-Rechts-Regierung zu beteiligen. Die Vergangenheit zeigt, dass der lange Arm der PS den flämischen Sozialisten sehr oft sehr dienlich war.
Ein Prozent = drei Milliarden Euro
Apropos Wahlen: Gazet van Antwerpen beschäftigt sich in ihrem Kommentar mit einer möglichen Reichensteuer. Es gibt einen weltweiten Zusammenschluss von Multimillionären, die geradezu darum bitten, besteuert zu werden. Dieses Netzwerk namens "Millionaires for Humanity" schlägt einen Steuersatz in Höhe von einem Prozent vor. Würde man das in Belgien einführen, dann beliefe sich der Ertrag laut Berechnungen des Planbüros auf drei Milliarden Euro pro Jahr. Trotzdem sind Parteien wie die Liberalen oder die N-VA für eine solche Maßnahme nicht zu begeistern. Ja, es stimmt, dass Belgien schon jetzt zu den Ländern mit der höchsten Steuerlast gehört. Dennoch muss herrlich sein, für eine solche Reichensteuer überhaupt in Betracht zu kommen.
Unlesbare Wahlkoppelung
Het Belang van Limburg bricht seinerseits eine Lanze für eine Entkoppelung der Wahlen. Es hat Zeiten gegeben, da wirkte es wie eine gute Idee, dass man dafür sorgte, dass die großen Wahlen zusammenfielen. Auf diese Weise wollte man erreichen, dass sich das Land nicht in einem Dauerwahlkampf befand. Die sozialen Medien bewirken aber inzwischen genau das. Deshalb überwiegen jetzt die negativen Argumente, allen voran die Feststellung, dass die Wähler bei all den Parlamenten, die neu zusammengestellt werden müssen, schlicht und einfach den Überblick verlieren. Für Normalsterbliche ist das Ganze unlesbar geworden. Ganz besonders leidet darunter die Europawahl. Die findet in Belgien quasi gar nicht statt. Das ist erst recht vor dem Hintergrund schade, dass die EU-Ebene inzwischen doch maßgeblichen Einfluss auf unseren Alltag hat. Es wäre also wünschenswert, wenn wenigstens die Europawahl wieder getrennt von den anderen Urnengängen stattfinden würde.
Einige flämische Zeitungen werfen einen kritischen Blick auf die Proteste pro-palästinensischer Studenten an der Uni Gent. Die Aktivisten haben eine gigantische Chance vertan, ist etwa De Morgen überzeugt. Sie hatten die Gelegenheit, als moralische Sieger ihre Besetzung von Hochschulgebäuden zu beenden. Immerhin hatte das Rektorat doch ihre wichtigste Forderung erfüllt: Die Uni will tatsächlich jegliche Zusammenarbeit mit israelischen Lehranstalten beenden. Das ist ein gewaltiges Zugeständnis an die Protestierenden. Doch was machen die? Sie gehen aufs Ganze, wollen wirklich alle ihre Forderungen durchsetzen. Diese Radikalisierung ist bedauerlich, denn ein ehrenvoller Kompromiss war zum Greifen nahe.
Hitzköpfe überspannen den Bogen
Het Nieuwsblad sieht das genauso. Die pro-palästinensischen Studierenden wissen offensichtlich nicht, wann es genug ist. Die Uni Gent ist mit ihrem Zugeständnis wesentlich weiter gegangen, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte. Alle Beziehungen mit israelischen Hochschulen sollen gekappt werden. Darunter werden also auch Lehranstalten leiden, die der Politik der Regierung Netanjahu kritisch gegenüberstehen. Und doch gehen die Proteste weiter. Durch ihre sture Haltung setzen die Aktivisten ihre Glaubwürdigkeit und die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung aufs Spiel. Eigentlich ist das eine traurige Metapher für acht Jahrzehnte Nahostkonflikt.
"Unversöhnlichkeit hilft dem Gazastreifen nicht", meint auch De Standaard. Die Genter Aktivisten haben den Bogen überspannt. Dass sich die pro-palästinensischen Studenten selbst mit einem solchen Kompromiss nicht zufriedengeben, sorgt selbst bei Sympathisanten für Kopfschütteln. Kontraproduktiv ist das Ganze aber auch für die belgische Position insgesamt. Die Föderalregierung hatte sich zuletzt auf der internationalen Bühne als eine Fürsprecherin für die palästinensische Sache hervorgetan. Es wäre schade, wenn diese Bemühungen zunichte gemacht würden durch eine kleine Gruppe von Hitzköpfen, die Radikalität wichtiger finden als Resultate.
Roger Pint