"Entgleisung: 'Jeholet hat uns gerade zwei Sitze gekostet'", zitiert La Dernière Heure auf Seite eins frankophone Liberale. "Die unbeholfenen Aussagen von Jeholet mit rassistischem Hintergrund", titelt La Libre Belgique. "Die Aussagen von Jeholet spiegeln die Evolution der MR wider", schreibt L'Echo.
"Sie werden uns hier in Belgien keine Lektionen geben wollen, oder? Es gibt Regeln, die respektiert man. Wenn Ihnen das nicht gefällt, sind Sie nicht gezwungen, in Belgien zu bleiben", gibt Le Soir in seinem Leitartikel das Zitat wieder, das seit dem Wochenende für Aufruhr sorgt. Es stammt vom MR-Ministerpräsidenten der Französischen Gemeinschaft, Pierre-Yves Jeholet. Geäußert hat er es gegenüber dem in Marokko geborenen PTB-Abgeordneten Nabil Boukili während einer Fernsehdebatte. Hintergrund war eine Diskussion über das Verbot des Tragens religiöser Symbole im öffentlichen Dienst. Nein, Jeholet hat Boukili weder gesagt, dass er in sein Land zurückkehren soll, noch zu sich nach Hause. Aber das ist trotzdem der Tenor, der hängengeblieben ist. Auch wenn es unfreiwillig war oder unbeholfen: Das MR-Schwergewicht hat sich hier eine Entgleisung geleistet, die rassistisch war. Denn Jeholet hat durchblicken lassen, dass er Boukili nicht als belgischen Abgeordneten wie die anderen betrachtet. Es wäre einfach, das Ganze ad acta zu legen: Jeholet müsste sich entschuldigen für seine Aussagen, sie zurückziehen und das unbeabsichtigte Chaos bedauern. Punkt. Wenn diese Art von Sätzen öffentlich und insbesondere von Politikern ausgesprochen wird, kann das legitimierend und ansteckend wirken und den gesellschaftlichen Diskurs vergiften, warnt Le Soir.
Trotz Eklat: Religion gehört ins Privatleben
Pierre-Yves Jeholet ist sicher kein fieser Rassist, kommentiert La Dernière Heure. Aber er hat hier mit einem ziemlich unverhohlenen Rassismus geflirtet. Wir wollen nicht unter den Tisch fallen lassen, dass sein Gegenüber Boukili ebenfalls erbärmlich war mit seinem Belgien-Iran-Vergleich. Aber das ändert nicht das Geringste daran, dass der MR-Ministerpräsident die ausländischen Wurzeln des PTB-Politikers angegriffen hat, dass er zwischen "denen" und "uns" unterschieden hat. Er hat zwar nicht gesagt, dass Boukili zu sich zurückkehren soll. Aber Jeholets Aussagen bleiben eine Variante davon. Dennoch muss man auch betonen, dass Jeholets Anliegen an sich richtig ist: Wir müssen die Neutralität des Staates verteidigen, insbesondere angesichts von Menschen, die Religion aus dem Privatleben in die Öffentlichkeit bringen wollen. Aber genau da, im Privatleben, sollte sie im Interesse aller bleiben, fordert La Dernière Heure.
Man kann gar nicht früh genug beginnen
Het Nieuwsblad greift ein anderes Problem auf, das ebenfalls oft mit Religion und kulturellem Hintergrund zu tun hat: die Ablehnung von LGBTQ+-Menschen durch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Wie man gerade wieder an den Gesprächen zwischen Schülern und Politikern im VRT-Programm "Eerste keus" sehen konnte, scheint eine Mehrheit der Jugendlichen keinen Sexualkundeunterricht in der Schule zu wollen, inklusive Aufklärung über LGBTQ+. Da müssen viele Erwachsene erstmal schlucken. Offensichtlich ist es also doch nicht so, dass die über Jahrzehnte erkämpften LGBTQ+-Rechte als sicher betrachtet werden können. Offenheit und Toleranz werden immer aufs Neue verteidigt werden müssen. Nur um ganz klar zu sein: Hier geht es nicht darum, Kleinkindern mit Gewalt sexuelle Details einzutrichtern. Hier geht es um eine grundsätzliche Haltung und um Toleranz. Das sind Bausteine unserer heutigen Gesellschaft. Man kann gar nicht früh genug damit beginnen, das den Kindern beizubringen, mahnt Het Nieuwsblad.
Die Sendung hat zwei Sachen deutlich gemacht, rekapituliert Gazet van Antwerpen: Erstens halten viele Menschen, darunter auch junge, nichts davon, dass andere ihre Sexualität frei leben können und dass die Gesellschaft das auch offiziell anerkennen muss. Selbst dann, wenn es um eine Geschlechtsveränderung oder Nicht-Binarität geht, und insbesondere, wenn diese Themen in der Schule behandeln werden sollen. Zweitens: In puncto sexuelle Orientierung sind der rechtsextreme Vlaams Belang und konservative Muslime auf einer Wellenlänge. In der öffentlichen Debatte muss jeder ein Existenzrecht haben, ganz egal was manche Menschen privat darüber denken mögen, so Gazet van Antwerpen kategorisch.
Wo sind Haushalt und Wirtschaft?
La Libre Belgique ärgert sich, dass das Thema Haushalt im frankophonen Wahlkampf unterrepräsentiert ist im Vergleich zum flämischen: Die Staatsschuld hat die Grenze von 600 Milliarden Euro überschritten. Das muss uns doch einfach beschäftigen. Wo die Frankophonen über Subventionen und das Kostenlos-Machen bestimmter öffentlicher Dienstleistungen sprechen, nehmen die Flamen die gleichen Ausgaben als zusätzliche Kosten für ihre Portemonnaies wahr, beklagt La Libre Belgique.
In den letzten fünf Jahren haben sich die strukturellen Schwächen der belgischen Wirtschaft nicht grundlegend verändert, hält L'Echo fest: Die Staatsfinanzen sind weiter in schlechtem Zustand, Arbeit kostet nach wie vor zu viel, der Beschäftigungsgrad ist zu niedrig und die Zahl der Langzeitkranken ist explodiert. Wer trägt die Schuld an diesen fünf verlorenen Jahren? Natürlich hat die Gesundheitskrise eine entscheidende Rolle gespielt. Aber auch die sehr vage Regierungsvereinbarung ist mitverantwortlich. Die Vivaldi-Koalition hat sich schlicht nicht in der Lage gezeigt, umfassende Reformen durchzuführen. Genau die brauchen wir aber – bei den Renten, beim Arbeitsmarkt und auch bei der Besteuerung. Dennoch wird genau darüber im Wahlkampf kaum gesprochen. Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es sein, die unvermeidliche Kursänderung durchzuführen. Wenn wir unseren Wohlstand bewahren wollen, ist der Status quo keine Option mehr, kritisiert L'Echo.
Boris Schmidt