"45 Tote nach 'barbarischem Angriff' auf Rafah", titelt Gazet van Antwerpen. "Mindestens 45 Tote nach israelischem Bombenangriff auf ein Zeltlager", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. "Horrorszenen in humanitärer Zone", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
Israel hat mit dem Beschuss eines Flüchtlingslagers im Süden des Gazastreifens weltweite Bestürzung ausgelöst. Mindestens 45 Menschen kamen ums Leben; die meisten seien Frauen und Kinder.
Allein dieser Angriff zeigt mal wieder eindrucksvoll, wie aussichtslos die Lage im Gazastreifen ist, beklagt De Tijd in ihrem Leitartikel. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen brachte es auf den Punkt: "Das Blutbad macht deutlich, dass die Einwohner des Gazastreifens wirklich nirgendwo mehr sicher sind". Israel hat die Zivilbevölkerung buchstäblich von der einen Ecke in die andere getrieben und zurück. Erst galt der äußerste Süden noch als sicher, jetzt konzentriert sich die Armee eben auf dieses Gebiet.
Mit dem Angriff auf das Flüchtlingslager zeigt Israel zudem seine Geringschätzung angesichts des Urteils des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag. Der hatte das Land gerade erst dazu angehalten, seine Offensive gegen Rafah zu beenden. Konnte man nach der barbarischen Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober noch auf weltweite Sympathie zählen, so hat Israel wegen seines rücksichtslosen Vergeltungsschlags im Gazastreifen inzwischen jeglichen Kredit eingebüßt. Selbst dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu scheint inzwischen aufzugehen, dass er den Krieg gegen die Hamas eigentlich nicht gewinnen kann. Es wird höchste Zeit, dass die Internationale Gemeinschaft jetzt ihren Druck auf alle Seiten massiv erhöht. Nicht mehr nur mit Worten, sondern auch mit Taten.
Noch keine "Koalition der Willigen"
Het Laatste Nieuws befasst sich mit der belgischen Position in diesem Konflikt. Der israelische Angriff auf das Flüchtlingslager in Rafah erhöht auch den Druck auf Premierminister Alexander De Croo. Bislang hatte er in der Frage einer Anerkennung des Staates Palästina noch für Besonnenheit plädiert. Die jüngste Tragödie schreit aber geradezu nach einem Kurswechsel. Eigentlich war es sein Plan, möglichst viele EU-Staaten hinter sich zu scharen, um eine größere Wirkung zu erzeugen. Nicht nur mit einer potenziellen Anerkennung des Palästinenser-Staates, sondern auch mit einem möglichen Boykott von Waren aus den von Israel besetzten Gebieten. Eine "Koalition der Willigen" sozusagen. Das scheitert allerdings schon an der Uneinigkeit innerhalb der eigenen Regierung. Insbesondere die liberale Schwesterpartei MR kann sich nicht zu einer klaren Haltung durchringen.
Der Protest gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen nimmt unterdessen zuweilen skurrile Züge an. Het Nieuwsblad bringt es mit seiner Schlagzeile auf den Punkt: "Schummeln erlaubt aus Solidarität mit Gaza". An einigen flämischen Universitäten wollen Mitarbeiter bei den anstehenden Prüfungen nicht mehr so ganz genau hinschauen. Sollten Studierende versuchen zu spicken, dann werde man ein Auge zudrücken. Dies nach dem Vorbild der Rektoren, die ja auch angesichts der Tragödie im Gazastreifen einfach wegschauen.
"Es droht uns ein regelrechter Kulturkampf"
Bei allem Verständnis für die Studentenproteste und die Solidaritätsbekundungen für die Palästinenser, aber jetzt wird es lächerlich, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Das Wortspielchen, wonach man jetzt eben auch "genauso wegschauen will wie die Uni Gent", das mag ja gut gefunden sein, das war's aber auch schon! Die Uni-Mitarbeiter wären wirklich gut beraten, die Prüfungsperiode unter keinen Umständen zu stören. Das ist nämlich auch eine Frage des Respekts. Der Nahostkonflikt kann nicht über Nacht gelöst werden. Die schwellende Krise insbesondere an der Uni Gent hoffentlich wohl!
Der Lehrkörper an den flämischen Hochschulen muss wirklich aufpassen, dass er sich nicht noch zusätzlich angreifbar macht, empfiehlt De Standaard. Schon jetzt blasen insbesondere der rechtsextreme Vlaams Belang, aber auch die N-VA zum Angriff auf die angeblich "linken Professoren". Wenn man beide Parteien hört, dann werden die heranwachsenden Intellektuellen von morgen indoktriniert von einer Bande weltfremder Dozenten, ist die akademische Glaubwürdigkeit bedroht, ist die Wissenschaft ein Mittel zur Gehirnwäsche. Ein regelrechtes Komplott einer woken Sekte also. Zugegeben: Es ist kein Geheimnis, dass viele Professoren ausgesprochen progressiv denken. Den angeblich "linken Professor" zum Feindbild zu erklären, das ist aber das Schwarzpulver, um die intellektuelle Freiheit an Universitäten in die Luft zu jagen. Hier sollen Orte, die kritisches Denken und Emanzipation fördern, unter Generalverdacht gestellt werden. Hier droht uns ein regelrechter Kulturkampf.
Widerlegung der These De Wevers von den "zwei Demokratien"
De Morgen glaubt in dieser Schlussphase des Wahlkampfes eine völlig veränderte politische Realität zu erkennen. Die jüngsten Umfragen dürften insbesondere dem N-VA-Vorsitzenden Bart De Wever nicht gefallen. Denn auf der frankophonen Seite scheinen sich Umwälzungen anzubahnen. Die liberale MR könnte im Süden des Landes zur stärksten Kraft aufsteigen; auch die Mitte-Rechts Partei Les Engagés hat den Wind in den Segeln. Das könnte erstmal De Wevers These von den "zwei Demokratien" widerlegen.
Hinzu kommt: Bislang suggerierten die Nationalisten eine bipolare politische Realität: auf der einen Seite die N-VA, auf der anderen Seite die PS. Und beide sollten dann zusammen ein "großes Abkommen" aushandeln. Das war einmal. Eine große "konföderale" Staatsreform wird so noch unwahrscheinlicher.
Die Ukraine unterstützen und Ungarn die Krallen stutzen
Einige Blätter blicken schließlich noch auf die Ukraine. Präsident Selenskyj wird Belgien ja heute einen Blitzbesuch abstatten. Derweil droht wieder Ungemach aus Budapest: "Orban stellt sich wieder quer: Die Ukraine muss länger auf Waffen warten", titelt De Standaard. Der bekennende Putin-Freund Viktor Orban versucht mit allen Mitteln, europäische Hilfen für die Ukraine zu sabotieren.
"Das muss endlich aufhören!", schimpft La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Vielleicht ist es nur Wahlkampfgetöse, vielleicht versucht Orban auch, blockierte EU-Milliarden loszueisen, die EU darf sich das aber nicht länger bieten lassen. Wer der Ukraine helfen will, der muss auch dem Autokraten von Budapest die Krallen stutzen.
Roger Pint