"Ingrid Lieten will nicht weichen", titelt heute Het Laatste Nieuws. Es war eben diese Zeitung, die gestern als erste über eine irrtümlich verschickte E-Mail aus dem Kabinett der flämischen Vizeministerpräsidentin berichtete.
Die E-Mail war für den internen Hausgebrauch bei der SP.A gedacht. Stattdessen landete sie im elektronischen Briefkasten aller Regierungskollegen. Der Inhalt, den verschiedene Zeitungen integral abdrucken, ist nicht zimperlich: Lieten bezeichnet die Ministerkollegen als Machos, als aus Teflon und Beton gegossene Karikaturen. Außerdem übt sie unverhohlene Kritik an dem sozialwirtschaftlichen Masterplan der flämischen Regierung "Vlaanderen in actie".
Het Belang van Limburg kann sich nur wundern: Wenn man die Mail liest, dann könnte man meinen, dass die SP.A nicht länger in der flämischen Koalition bleiben will. Offensichtlich stimmt das aber nicht: Lieten entschuldigt sich, die SP.A bleibt.
Das ist ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit der Regierung von Kris Peeters, meint dazu Gazet van Antwerpen. Wenn schon die Vizeministerpräsidentin nicht mehr an die Regierung glaubt, dann sieht das mehr als unglücklich aus. Wenn sie sich selbst, ihrer Partei und nicht zuletzt der Regierung noch einen Dienst erweisen will, dann sollte Ingrid Lieten zurücktreten.
Eben weil Lieten im Amt bleibt, stellt sich Het Laatste Nieuws die Frage, wer denn hier aus Teflon und wer aus Beton ist. Wenn Lieten nach einem solchen Rundumschlag nicht ihre Konsequenzen zieht, dann sagt das viel aus über die politische Kultur. Man fühlt sich an das Regime in Ägypten erinnert, das auch so lange sitzen blieb, wie die Proteste nicht zu groß wurden.
Het Nieuwsblad sieht das etwas nuancierter: Sich über die von Lieten formulierten Nettigkeiten zu echauffieren, ist scheinheilig. Politiker, die sich Beleidigungen an den Kopf werfen, daran haben wir uns inzwischen gewöhnt. Viel schwerer wiegt aber Lietens Kritik an dem "Vlaanderen in actie"-Programm. Hier handelt es sich schließlich um die Priorität der flämischen Regierung. Und wenn selbst die dafür zuständige Ministerin nicht an den Masterplan glaubt, warum sollte es dann noch jemand anders tun?
De Standaard sieht in der ganzen Affäre einen weiteren Beweis für die allgemeine Verrohung des politischen Umgangstons. Deswegen ist es auch gut, dass die Mail an die Öffentlichkeit kam. Eine Lehre daraus sollte sein, dass man nach Wegen sucht, Ethik und Respekt wieder mehr Gewicht zu geben.
Interessanterweise widmet auch die frankophone Regionalzeitung L'Avenir der Affäre ihren Leitartikel. Ihre Feststellung, mit einem sarkastischen Augenzwinkern: Die Flamen haben offensichtlich noch nicht einmal mehr die Frankophonen nötig, um den Porzellanladen zu verwüsten.
Die Krise
Womit wir bei der innenpolitische Krise wären. Informateur Didier Reynders sucht ja weiter nach einem möglichen Ausweg aus der Krise. Am einfachsten wäre es, sich mit allen neun demokratischen Parteien an einen Tisch zu setzen, notiert La Libre Belgique. Im Verlauf der Gespräche kann wer will immer noch abspringen. Wie La Libre im Übrigen auf ihrer Titelseite hervorhebt, distanziert sich mit Rik Torfs ein bekanntes CD&V-Mitglied von der N-VA und Bart De Wever, und damit auch von der eigenen Parteilinie: Die CD&V ist ja bislang systematisch im Windschatten der N-VA geblieben.
Weil die politische Krise längst etwas unübersichtlich geworden ist, bietet die Zeitung Het Nieuwsblad ihren Lesern heute ein eigens entwickeltes Brettspiel an, nach dem Vorbild des bekannten "Stratego". Bei den Spielfiguren handelt es sich um die wichtigsten Politiker.
Für Diskussionsstoff sorgt derweil auch die Vision des ehemaligen königlichen Vermittlers Johan Vande Lanotte: "Belgien zu viert", eine "belgische Union" bestehend aus Flandern, der Wallonie, Brüssel und der DG. Diese Position wird schon seit längerem durch den Ministerpräsidenten der DG, Karl-Heinz Lambertz, vertreten, bemerkt unter anderem La Dernière Heure.
Le Soir meint im selben Zusammenhang etwas despektierlich in einem satirischen Wochenrückblick: Hat die Stunde von Karl-Heinz I., Kaiser von Germanien, nun endlich geschlagen? Nicht unbedingt. Die Vision von Vande Lanotte, das ist schließlich nichts für morgen.
Fast alle Zeitungen drucken im Übrigen heute Interviews mit Johan Vande Lanotte ab. Bemerkenswert vor allem eine Aussage in Le Soir: Vande Lanotte ist fest davon überzeugt, dass auch N-VA-Chef Bart De Wever ein gemeinschaftspolitisches Abkommen wirklich will.
Die Gewerkschaftsproteste
Stichwort Krise: Den belgischen Verbraucher scheint die politische Pattsituation nicht weiter zu beunruhigen, wie L'Echo bemerkt. Das Verbrauchervertrauen ist nach einer jüngsten Studie der Nationalbank so groß wie seit knapp vier Jahren nicht mehr. Kommentierend fügt das Blatt hinzu: Das darf uns nicht in Sicherheit wiegen. Die wachsende Inflation und die anstehenden Strukturreformen werfen ihre Schatten voraus. Vor diesem Hintergrund ist die Haltung der Gewerkschaften problematisch: Ihre Weigerung, überhaupt über das Thema Lohn-Index-Bindung zu reden, ist reiner Dogmatismus.
Allen voran die FGTB hat ja gestern erneut Protestaktionen gegen das Rahmentarifabkommen durchgeführt. Die Regierung will jetzt nach der erneuten Ablehnung eines Kompromisses durch zwei Gewerkschaften ihre korrigierte Fassung des Rahmentarifabkommens umsetzen. Damit war der gestrige Protesttag wohl nicht der letzte.
La Libre Belgique reagiert mit Unverständnis: Die Gewerkschaften sehen die Lohn-Index-Bindung in Gefahr, dabei wurde das Prinzip zuletzt von der Regierung noch einmal in Beton gegossen. Auch andere Kritikpunkte hatte die Regierung in ihrer korrigierten Fassung des Rahmentarifabkommens entschärft. Da gibt es nur eine Erklärung: FGTB und CGSLB wollten ihre einmal ausgerufenen Protestaktionen nicht wieder abblasen, der CSC blieb nichts anderes übrig, als wieder auf den Zug aufzuspringen. Das sind schlicht und einfach strategische Muskelspielchen.
De Morgen berichtet heute über eine neuerliche Polemik in Flandern: ein N-VA-Politiker stellt sich offen die Frage, ob bei einer als pro-belgisch eingestuften Veranstaltung in einem flämischen Kulturzentrum in Brüssel flämische Fördergelder im Spiel waren. Die flämische Kulturszene ist erschüttert: In den Niederlanden etwa würde nicht einmal der Rechtspopulist Geert Wilders solche Fragen stellen, heißt es da.
Auch Le Soir zeigt sich in seinem Leitartikel besorgt über das derzeitige Klima. Bart De Wever hat kürzlich unter anderem den Soir mit Toilettenpapier verglichen und zum Boykott aufgerufen. In einem solchen Klima ist die Pressefreiheit in Gefahr. Zumindest könnten Journalisten irgendwann Angst haben, ihren Job zu machen, weil sie anscheinend Gefahr laufen, boykottiert oder gelyncht zu werden.
Bild: Julien Warnand (belga)