"Netanjahu im Fadenkreuz des Internationalen Strafgerichtshofs", titelt Le Soir. "Der Internationale Strafgerichtshof nimmt Netanjahu und auch Hamas-Verantwortliche ins Visier", so die Schlagzeile von La Libre Belgique. "Historischer Antrag gegen Netanjahu und Hamas-Chefs", schreibt L'Echo auf Seite eins.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes will Haftbefehle ausstellen gegen drei Verantwortliche der islamistischen Terrororganisation Hamas, aber auch gegen zwei Mitglieder der israelischen Regierung, mit Namen Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Galant. Der internationale Strafgerichtshof ermittelt unter anderem wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Dass Netanjahu hier gleichgesetzt wird mit der Hamas, ist ein Skandal", zitiert De Tijd den US-Präsidenten Joe Biden. Dennoch: "Ein Haftbefehl könnte Israel noch weiter isolieren", notiert De Morgen auf Seite eins.
Historischer Wendepunkt
Der Antrag des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofes ist ein Wendepunkt, ist L'Avenir überzeugt. Schon in den letzten Monaten war die Kritik am Vorgehen des israelischen Regierung stetig angeschwollen. Bislang war es aber eben nicht mehr als das. Durch den Antrag von Chefankläger Karim Khan wird nun aber eine neue Ebene erreicht. Khan legt mutig den Finger in die Wunde, er prangert das israelische Vorgehen öffentlich an. Noch nie ist eine so wichtige internationale Einrichtung so weit gegangen.
Der Internationale Strafgerichtshof stemmt sich jetzt mit aller Macht gegen die Straffreiheit, konstatiert auch Le Soir. Chefankläger Karim Khan hat es nochmal wiederholt: Kein Staat kann sich dem internationalen Recht entziehen, auch nicht dem Kriegsvölkerrecht. Und kein Soldat, kein Kommandant und auch kein ziviler Verantwortlicher kann ungestraft agieren. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Ankündigung von gestern ist historisch. Trotz der wachsenden Kritik an der israelischen Regierung hat wohl niemand ernsthaft geglaubt, dass der Chefankläger sich zu diesem Schritt durchringen würde. Und für die "einzige Demokratie im Nahen Osten" - wie Israel gerne bezeichnet wird - mit ihrer angeblich "moralischsten Armee der Welt" ist das keine gute Neuigkeit. Die Botschaft aus Den Haag ist deutlich: Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
"Hier spricht das Weltgewissen"
Für Israel ist das ein moralischer Schlag in die Magengrube, glaubt De Tijd. Bemerkenswert: Chefankläger Khan ergreift hier nicht Partei. Neben den beiden israelischen Regierungsmitgliedern will er ja auch drei Hamas-Chefs zur Verantwortung ziehen, und zwar wegen der barbarischen Terrorattacke vom 7. Oktober. Khan legt hier außerordentlichen Mut an den Tag. Ungeachtet des politischen Drucks und der enormen Polarisierung lehnt er sich aus dem Fenster. Er hätte auch wegschauen können. Für Israel ist das in jedem Fall eine handfeste Blamage. Alle Studentenproteste, jegliche Kritik, sämtliche Warnungen, sogar von US-Präsident Biden, kann die israelische Regierung in den Wind schlagen. Der Warnschuss aus Den Haag hat aber eine andere Qualität: Hier handelt es sich nämlich nicht um Politik, sondern hier spricht das Weltgewissen.
Die Reaktion von Benjamin Netanjahu war ebenso prompt wie vorhersehbar, findet De Morgen. Die Anschuldigungen aus Den Haag seien "skandalös, kriminell und antisemitisch", polterte Bibi in altbewährter Art. Aber diesmal reicht es nicht, sich wie eine wildgewordene Heulboje aufzuführen. Erst die Völkermord-Klage von Südafrika, jetzt der drohende Haftbefehl aus Den Haag: Die moralische Überlegenheit ist definitiv futsch! Chefankläger Khan hält hier auch insbesondere dem Westen den Spiegel vor. Seiner Ansicht nach reicht es nicht mehr, den barbarischen Terrorangriff der Hamas zu verurteilen, auch Israel verstößt gegen internationales Recht. Fazit: Wegschauen wird immer schwieriger.
Weitere Eskalation im Nahen Osten erst mal nicht zu befürchten
Ein zweites Ereignis im Nahen Osten zieht in diesen Tagen ebenfalls die internationalen Blicke auf sich: "Der Iran verliert seinen Präsidenten, das Regime schließt die Reihen", titelt La Libre Belgique. Der iranische Präsident Raisi ist am Sonntag bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Die Meldung sorgte für geteilte Reaktionen: "Tränen im Iran, nach dem Tod des Präsidenten, aber auch Feuerwerk", schreiben Het Laatste Nieuws und Gazet van Antwerpen auf Seite eins. Raisi hinterlässt jedenfalls eine große Lücke, und das kann das Land in eine innenpolitische Krise stürzen. "Raisi ist tot: unsichere Zukunft für den Iran", schreibt denn auch das GrenzEcho.
Das hatte gerade noch gefehlt, meint La Libre Belgique sinngemäß in ihrem Leitartikel. Der Nahe Osten steht ja ohnehin schon unter Hochspannung. Spätestens seit der Terrorattacke vom 7. Oktober und dem darauf folgenden israelischen Gegenschlag. Wer jetzt auf Veränderungen im Iran hofft, der wird wohl enttäuscht. Der erzkonservative Raisi war letztlich nur ein Symptom, ein Sinnbild für die Bestrebungen der religiösen Führung in Teheran, die Schrauben noch weiter anzuziehen. Raisi war nur das sichtbare Zeichen für die zunehmende Radikalisierung des Regimes. Vor diesem Hintergrund kann man davon ausgehen, dass Raisis Nachfolger mindestens das gleiche Profil haben wird, wenn nicht sogar noch radikaler.
Immerhin: Eine weitere Eskalation im Nahen Osten ist erst mal nicht zu befürchten, glaubt Gazet van Antwerpen. Dafür gibt es verschiedene Anzeichen. Zunächst einmal ist es so, dass nicht nur die Diktaturen dieser Welt dem Iran kondoliert haben, sondern auch Beileidsbekundungen von unerwarteter Seite kamen, nämlich von der EU und sogar von Saudi-Arabien. Auf der anderen Seite fiel die iranische Reaktion auf einen mutmaßlich israelischen Angriff auf das iranische Botschaftsgebäude in Syrien demonstrativ verhalten aus. Im Moment sieht es auch nicht so aus, als suche der Iran einen Sündenbock, dem man den Hubschrauberabsturz in die Schuhe schieben könnte. Das alles macht dann doch ein bisschen Hoffnung.
Roger Pint