"Die Kritik am ESC und an Israel wird immer lauter", titelt De Morgen. "Das Chaos ist dann doch schon erheblich", schreibt Het Belang van Limburg auf Seite eins und zeigt dabei ein Foto des niederländischen Kandidaten Joost Klein. Der wurde ja gestern von den Proben ausgeschlossen. Die Hintergründe sind noch unklar. "Gegen Joost Klein wird ermittelt wegen eines Zwischenfalls hinter den Kulissen", weiß Het Nieuwsblad. "Joost Klein könnte aus dem ESC-Finale verbannt werden", mutmaßt seinerseits Het Laatste Nieuws.
"Die 68ste Auflage des Eurovision Song Contest ist ein einziges Pannenfestival, bei dem es nur Verlierer gibt", beklagt Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Erst die Polemik um die Teilnahme der israelischen Sängerin Eden Golan, und jetzt auch noch das Chaos um den niederländischen Kandidaten Joost Klein. Zugegeben: Der ESC ist nicht die wichtigste Sache der Welt; nicht mal die wichtigste Nebensache der Welt, das ist ja schon der Fußball.
Aber die Show wird immerhin weltweit von 160 Millionen Fernsehzuschauern verfolgt. Und was diese Menschen in diesem Jahr zu sehen bekommen, das hat nur noch wenig mit Musik zu tun. Darf Joost Klein nun mitmachen oder nicht? Warum wurde er zunächst ausgeschlossen? Nichts Genaues weiß man nicht. Ganz zu schweigen von den Protesten gegen die Teilnahme Israels. Wer den Wettbewerb am Ende gewinnt, das interessiert wohl niemanden mehr. Es sei denn, Israel wird zum Sieger gekürt.
Neutralität? Eine Fiktion!
Noch nie war der Eurovision Song Contest so politisch aufgeladen wie in diesem Jahr, ist auch Het Laatste Nieuws überzeugt. Die Europäische Rundfunkunion EBU, die den Wettbewerb organisiert, hat einen klassischen Rohrkrepierer produziert: Eben durch die Tatsache, dass nicht über Politik gesprochen werden darf, geht es inzwischen nur noch um Politik.
Die Veranstalter haben wohl einen gewaltigen Denkfehler gemacht, glaubt auch sinngemäß Het Belang van Limburg. Der ESC tut alles, um die Politik draußen zu lassen. Dabei ist es doch das Wesen der Demokratie, dass man Menschen nicht einen Maulkorb anlegen kann. Denn wo ist die Grenze? Wenn sich der belgische Kandidat Mustii ein unschuldiges "Peace" auf den Oberarm geschrieben hat, ist das schon Politik?
Man kann ein Musikfestival dieser Größe nicht von der Welt abschotten. Bester Beweis war der Sieg der Ukraine vor zwei Jahren. Im selben Jahr wurde Russland von dem Wettbewerb ausgeschlossen. Und auch die Teilnahme der israelischen Sängerin Eden Golan ist letztlich hochpolitisch. Und was, wenn Israel am Ende gewinnt? Dann findet der nächste ESC in Israel statt. Politischer geht es dann wirklich nicht mehr.
Illoyal und destruktiv
Neutralität ist im vorliegenden Fall reine Fiktion, meint denn auch Het Nieuwsblad. Allein die Tatsache, dass Israel eingeladen wurde, ist schon ein politisches Statement. Der Sieg der Ukraine 2022 war das auch schon. Mit dem Song hatte das jedenfalls nicht zu tun. Den Ausschluss Russlands hatte die EBU damals begründet mit der Tatsache, dass es in Russland keinen unabhängigen öffentlich-rechtlichen Sender mehr gibt.
In Israel mag das auf dem Papier besser sein. Doch vermitteln die israelischen Botschaften in Europa da doch einen anderen Eindruck. Vor dem Halbfinale hatten sie nachdrücklich dazu aufgerufen, im Sinne der israelischen Staatsräson für Eden Golan zu stimmen. Mit anderen Worten: Selbst für Israel ist das mehr als ein neutrales Musikfestival. Das alles nur um zu sagen: Israel hätte wegen der unverhältnismäßigen Gewalt im Gazastreifen von der diesjährigen Auflage des ESC ausgeschlossen werden müssen.
Innenpolitisch sorgt der Clash zwischen der föderalen Energieministerin Tinne Van der Straeten und dem MR-Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez für Diskussionsstoff. Van der Straeten hat die Absicht, Bouchez zu verklagen, wahrscheinlich wegen übler Nachrede.
Das wäre beispiellos, analysiert De Morgen. Allerdings kann man den Ärger der Groen-Politikerin durchaus nachvollziehen. Bouchez wirft Van der Straeten unter anderem vor, Gutachten manipuliert zu haben. Gleich wie man über die Politik der Energieministerin denkt: Diese Vorwürfe sind unangemessen und sie sind zudem ein grober Verstoß gegen die gängigen politischen Umgangsformen.
Jeder Regierungsbeschluss wird einmütig getroffen. Wenn ein Regierungspartner ein Problem damit hat, dann steht es ihm frei, die Regierung zu verlassen. Bouchez zeigt sich hier also mindestens illoyal und ganz nebenbei auch destruktiv. Dieser neuerliche Streit ist wohl der symbolische Schlusspunkt der Vivaldi-Koalition.
Und so dreht sich der Teufelskreis weiter, denn der Vormarsch der extremistischen Parteien zwingt die Politik zu ungewohnten Koalitionen, die manchmal tatsächlich wider Natur sein können. Wenn das aber letztlich zu Dauerstreitigkeiten und im schlimmsten Fall politischem Stillstand führt, dann macht man die Extremisten dadurch nur noch stärker.
Fahrzeug ohne Stoßdämpfer
Der Wahlkampf findet derweil immer mehr im luftleeren Raum statt, findet De Tijd. Die wirklich wichtigen Themen werden weitgehend ausgeblendet. Keine einzige Partei hat dem Planbüro ein Programm vorgelegt, das den Haushalt wieder in die EU-Spur bringen würde.
Niemand wagt es, die Wähler mit allzu tiefgreifenden Sanierungsmaßnahmen zu brüskieren. Dabei stehen wir vor einer durchaus bitteren Realität. In der westlichen Welt und vor allem in Belgien wird der budgetäre Druck mehr und mehr unhaltbar.
Das belgische Haushaltsloch ist jetzt schon abgrundtief. Dabei weiß jeder, dass die Kosten für die Klimawende und die Vergreisung die Staatsfinanzen in den nächsten Jahren noch weitaus spürbarer belasten werden.
In Belgien sind die Reserven so gut wie aufgebraucht. Und die Weigerung, beziehungsweise das Unvermögen der Parteien, eine wirkliche Haushaltssanierung durchzuführen, macht das Ganze nur noch schlimmer. Einem Fahrzeug ohne Stoßdämpfer droht ein hässlicher Unfall. Im Falle eines Staates endet ein solcher Crash nicht in einer Leitplanke, sondern im schlimmsten Fall in einem plötzlichen und unkontrollierten Wohlstandsverlust.
Roger Pint