"Was die Unruhen auf den Campussen über die amerikanische Gesellschaft enthüllen", titelt L'Echo zu den Ausschreitungen rund um die pro-palästinensischen Studentenproteste an amerikanischen Universitäten. "Auch belgische Studenten drohen mit pro-palästinensischen Protesten", meldet Het Laatste Nieuws. "Der Studentenprotest wird radikaler: Wie weit reicht die Zusammenarbeit zwischen flämischen Universitäten und Israel?", fragt De Morgen auf Seite eins.
In den vergangenen Tagen hat die Gewalt Einzug gehalten im Zufluchtsort der Vernunft, beklagt L'Echo in seinem Leitartikel. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, auch an der Sciences Po in Paris hat die Polizei gegen protestierende Studenten durchgegriffen. Währenddessen gibt es auch an belgischen Universitäten immer größere Spannungen. Das größte Problem sind dabei nicht so sehr die Demonstranten der ersten Stunde, sondern die zahlreichen Trittbrettfahrer, die die Proteste für ihre eigene Zwecke kapern. Sie wollen zum Beispiel die Intifada globalisieren, den Imperialismus zerstören, jüdischen Studenten Gewalt antun oder gar den Tod aller Zionisten, wie es ein Aktivistenführer formuliert hat. Dieses Phänomen kennen wir schon von den Gelbwesten, von den Bauernprotesten und anderen Bewegungen. Dagegen müssen die Universitäten geschützt werden. Sie müssen ein Ort des Dialogs bleiben, der Nuancen, der Lösungen. Und nicht ein Schlachtfeld für alle möglichen Frustrationen und widerlichen Gewaltfantasien. Die Universitäten ihrerseits sollten sich davor hüten, ihre Seele zu verlieren. Und davor, durch ein hartes Auftreten gegen protestierende Studenten Extremisten ein Geschenk zu machen, warnt L'Echo.
Wahlkampfmanöver
La Libre Belgique beschäftigt sich mit einem neuen Gesetz, das den Einsatz von Agenten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in Belgien erlaubt: Dabei handelt es sich vor allem um einen symbolischen Akt, denn es werden gerade mal höchstens hundert Frontex-Beamte sein, die die föderale Polizei bei der Kontrolle der Grenzen unterstützen werden und bei der zwangsweisen Rückführung von Ausländern in ihre Ursprungsländer. Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen und der großen Rolle, die das Thema "Migration" dabei spielt, sollte man das Gesetz auch vor allem als Wahlkampfmanöver sehen, das das Versagen der belgischen Einwanderungspolitik kaschieren soll. Tatsache ist nämlich, dass Einwanderung ein wichtiger Motor nicht nur für unsere Wirtschaft ist. Tatsache ist aber auch, dass Integrationsparcours, Begleitung qualifizierter Kandidaten, die Schaffung geeigneter lokaler Aufnahmeplätze, kurz gesagt ein kohärenter und umfassender Plan zum Umgang mit Einwanderung, der Recht und internationale Verträge respektiert, in der aktuellen Politik nicht auftauchen, kritisiert La Libre Belgique.
Frontex ist vor allem bekannt für seine illegalen Methoden und seine Missachtung der Menschenrechte, kommentiert La Dernière Heure. Dennoch haben sowohl Sozialisten als auch Grüne für die Annahme des neuen Gesetzes gestimmt. Hintergrund ist wohl, dass sie einen Deal mit der CD&V gemacht haben: Ihre Zustimmung zum Frontex-Gesetz gegen soziale Maßnahmen, die "Zehntausende Belgier" betreffen sollen, wie ein Sozialist eingesteht. Das wirft viele Fragen zu den Einzelheiten dieses Deals auf. Jedenfalls haben PS und Ecolo lieber ihre Werte verraten als ihre Koalitionspartner. Das zeigt wieder einmal auf, welchen Preis eine Koalition linker Parteien mit rechten Partnern hat, giftet La Dernière Heure.
Gedankenspiel "Staatsreform"
Het Nieuwsblad greift die Einigung der Föderalregierung auf einen Entwurf für eine sogenannten Revisionserklärung auf. Dabei handelt es sich vereinfacht gesagt um eine Liste von Verfassungsartikeln, die in der nächsten Legislaturperiode zur Änderung freigegeben werden. Eigentlich geht es vor allem um einen Artikel, Artikel 195, schreibt die Zeitung. Denn der kann – je nach Sichtweise – gebraucht oder missbraucht werden, um überall an der Verfassung herumzuschrauben. Die Einigung der Föderalregierung ist ein Kompromiss, wie schon so viele davor. Und sowieso stellt sich die Frage, ob er irgendwelche Folgen haben wird. Denn es gibt keine wirkliche Debatte darüber, in welche Richtung sich Belgien entwickeln sollte. Die politischen Parteien sind heillos zerstritten, jeder hat eigene Vorstellungen: Liberale und Grüne wollen den Föderalstaat wieder stärken, die N-VA will Konföderalismus, die Sozialisten sind institutionelle Agnostiker und der Vlaams Belang will Belgien aufspalten. Wie soll unter diesen Umständen jemals eine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zustande kommen? Ganz zu schweigen davon, dass der Aufstieg der extremistischen Parteien das noch schwieriger macht, unterstreicht Het Nieuwsblad.
Gut gemeint, schwierig umzusetzen
De Standaard kommt zurück auf die Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse sowohl des föderalen als auch des flämischen Parlaments zu sexuellem Missbrauch innerhalb und außerhalb der Kirche: Frühere Ausschüsse hatten schon viel Arbeit geleistet, aber zumindest haben die Opfer so erneut die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben. Kernanliegen der jetzigen Kommissionen war die Frage, wie diesen Menschen besser geholfen werden kann, dazu haben sie eine ganze Reihe gutgemeinter Empfehlungen formuliert. Die Koordination all dieser Maßnahmen wird aber noch ein heikles Thema werden, denn wie immer sind die Zuständigkeiten zersplittert. Hinzu kommt, dass nicht alle Maßnahmen besonders gut durchdacht erscheinen. So wie der Vorstoß, rückwirkend die Verjährung von sexuellem Missbrauch abzuschaffen. Denn das wäre ein Angriff auf die Verfassung. Außerdem ist sexueller Missbrauch sehr schwer nachzuweisen, insbesondere, wenn er schon Jahrzehnte zurückliegt. Außerdem will die Kammer in der nächsten Legislaturperiode "Operation Kelch" aufarbeiten, also die nicht sehr ruhmreiche Untersuchung von Missbrauch in der Kirche durch die belgische Justiz. Das wird nicht nur zu nichts führen, sondern übersteigt auch die Befugnisse der Kammer, meint De Standaard.
Boris Schmidt