Auf fast allen Titelseiten prangt ein Wort: "Weltrekord". "Endlich Weltmeister", titelt etwa De Standaard. "Rekord geknackt", meint Le Soir auf Seite 1. Het Nieuwsblad spricht vom "Rekord der Schande". Het Laatste Nieuws blickt nach vorn um festzustellen: "Tag 249 und nichts in Sicht". De Morgen schließlich hält es mit Hugo Claus und schreibt in Blockbuchstaben: "Het verdriet van Belgïe" - der Kummer von Belgien.
Reynders verlängert - Skepsis bleibt
Belgien hält nun also den Weltrekord und löst damit den Irak ab, wo nach 249 Tagen immerhin ein Regierungsabkommen stand. Die großen Brüsseler Zeitungen widmen dem wenig schmeichelhaften Ereignis mehrere Sonderseiten. Im Augenblick soll es ja Informateur Didier Reynders richten; dessen Sondierungsmission hat ja der König gestern um zwei Wochen verlängert. Reynders soll nun also am 1. März seinen Abschlussbericht vorlegen. Das dürfte dann aber ein definitives Fazit des Informateurs sein, wie unter anderem La Libre Belgique glaubt.
Und das Blatt fügt hinzu: Was die Erfolgsaussichten von Reynders angeht, so herrscht längst allgemeine Skepsis. Das Blatt fasst es auf seiner Titelseite mit der Schlagzeile zusammen: "Reynders gegen alle". Allen voran Bart De Wever macht keinen Hehl daraus, dass er nicht wirklich optimistisch ist. Und sollte auch die Mission von Reynders im Sande verlaufen, dann gibt es nach Ansicht des N-VA-Chefs nur noch eine Alternative: Neuwahlen, wie unter anderem Het Laatste Nieuws hervorhebt.
Verpasste Chancen - Kollektives Versagen
So gut wie alle Zeitungen widmen der politische Krise und insbesondere dem neuerlichen Eintrag ins "Guinness Buch der Rekorde" ihren Leitartikel.
Het Laatste Nieuws etwa spricht von einem 'Festival der verpassten Chancen'. Einige Male stand man in den letzten Monaten kurz vor einem Abkommen. Etwa unter dem Präformateur Elio Di Rupo oder dem Vermittler Johan Vande Lanotte. Vor allem das klägliche Ende der Vande Lanotte - Mission spricht Bände. Diese Episode hat gezeigt, wie groß die Angst verschiedener Protagonisten ist, sich ins kalte Wasser zu stürzen. Das Schlimme ist: Es gibt wenig Aussicht auf Besserung. Nach wie vor muss die Regierungsbildung erst beginnen. Wir sind jetzt die Nummer 1, und wir werden es auch bleiben.
Het Nieuwsblad spricht von einem "traurigen Rekord", der zugleich die Frage aufwirft: Ist Belgien denn wirklich so außergewöhnlich? So mancher wird jedenfalls hierin den Beweis sehen, dass Belgien nicht mehr funktioniert. Gegenfrage: Ist das nicht eine billige Entschuldigung von Politikern, die ihre Arbeit nicht tun? Dem jeweils anderen die Schuld an dem Debakel geben, ist ebenso billig: Wenn sich ein Land so festfährt, dann ist das Versagen kollektiv. Mehr und mehr ist es nämlich so, dass sich hier nicht mehr politische Ideen gegenüberstehen, sondern sture Politiker, die glauben, im Recht zu sein.
Pro und contra Neuwahlen
Und diese Sturheit wird auch noch belohnt, beklagt Gazet van Antwerpen. Der Mangel an Kompromissbereitschaft sorgt auf beiden Seiten für rosige Umfrageergebnisse. Dadurch sehen sich die Protagonisten in ihrer Haltung bestätigt und setzen den Karren noch tiefer in den Dreck. De Wever und Di Rupo sind derweil zum Gespött der Brüsseler Rue de la Loi geworden, stehen stellvertretend für das Unvermögen der heutigen politischen Klasse. Doch beiden muss klar sein: Wenn die Demokratie blockiert ist, dann gibt es nur eine demokratische Lösung: Neuwahlen.
L'Echo hält das für eine schlechte Option. Man kann den Menschen doch nicht ein Jahr nach der Wahl, und ohne dass es auch nur den Hauch von Regierungsarbeit gegeben hätte, Neuwahlen verordnen, nach dem Motto: "Meine Damen und Herren, Sie haben schlecht gewählt; bitte noch mal!" Statt für Neuwahlen plädiert das Börsenblatt vielmehr dafür, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Land braucht einen internationalen Vermittler, zitiert das Blatt eine Experten, der auch schon einen Kandidaten parat hätte: Den finnischen Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari.
Externe Vermittlung oder gar EU-Aufsicht?
Het Belang van Limburg kann nur feststellen: In Belgien koexistieren letztlich zwei Länder unter einem Dach. Dennoch wird man sich wohl zusammenraufen müssen, denn eine Spaltung Belgiens ist keine Option. So kann es jedenfalls nicht mehr lange weitergehen. Wenn Belgien nicht langsam aber sicher die Weichen für die Zukunft stellt, dann könnte die EU sich am Ende sogar dazu genötigt sehen, Belgien unter Kuratel zu stellen.
Humor und Selbstironie - der belgische Kitt
Für De Morgen ist der Weltrekord ironischerweise aber auch der Beweis dafür, wie stark der Zusammenhalt des Landes trotz allem noch ist. Nur eine gesunde Nation hält eine so lange Krise aus. Doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass man hierzulande die Realität verdrängt. International droht Ungemach; am Ende wird wohl ein Angriff von Spekulanten Flamen und Frankophone zum Vergleich zwingen. Das wäre eine Bankrotterklärung der politischen Klasse. Und in der Zwischenzeit gibt es keinen Aufstand der Bürger, vielmehr organisieren sie zum Anlass des Weltrekords ein Volksfest. Vielleicht ist das die wahre Belgitude.
So lautet auch die Schlagzeile von De Standaard: "Humor hält das Land zusammen". Der heutige Tag der Selbstironie ist im Grunde eine Form von Erleichterung, von kollektiver Selbsttherapie.
Zwei Zeitungen - eine Mission
De Standaard und Le Soir haben sich übrigens zusammengetan, um gemeinsam nach Auswegen aus der Krise zu suchen. Beide Zeitungen wollen in den nächsten Tagen Tabus entzaubern, nüchterne Lösungsansätze liefern. Beide Blätter wollen den Beweis erbringen, dass ein Abkommen möglich ist, meint Le Soir. Man muss es nur wollen.
Externe Vermittlung oder gar EU-Aufsicht?
Das ist doch die ganze Agenda dieses Kasperletheater!
Oder wieso glaubt Ihr hat das belgische Fernsehen RTBF 2006 für Panik gesorgt, als es sein Programm mit der Ankündigung unterbrach, Flandern habe seine Unabhängigkeit erklärt.
Zitat:
“Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige
Zeit ab, was passiert.
Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die
meisten garnicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir
weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”
Jean-Claude Juncker über die Demokratie der EU (Der Spiegel 52/1999)