"Die Polizei legt ein Rechtsextremisten-Treffen in Brüssel still", so die Schlagzeile von De Tijd. "Annullierte Konferenz in Brüssel: Empörung in Europa", schreibt La Dernière Heure auf Seite eins. "Zusätzliche Aufmerksamkeit für eine nationalistische Konferenz in Brüssel", beklagt De Morgen. Einige Brüsseler Kommunalbehörden haben für einen internationalen Aufschrei gesorgt. Besonders im Fokus steht der Bürgermeister der Stadtgemeinde Saint-Josse, Emir Kir. Der frühere PS-Politiker, der heute als Parteiloser firmiert, hatte gestern per Polizeiverordnung eine Konferenz von Rechtsextremisten und Nationalisten annulliert. Dieses sogenannte NatCon-Treffen hatte mehrmals verlegt werden müssen, bis es dann doch in einem Veranstaltungssaal in Saint-Josse stattfinden konnte. Bürgermeister Kir sah dadurch aber die öffentliche Ordnung bedroht und ließ die Konferenz unterbrechen. Die Entscheidung sorgte international für Proteste. Den Kritikern zufolge ist das ein flagranter Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Die extreme Rechte kann Emir Kir auf Knien danken, giftet Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Zugegeben: Die NatCon ist definitiv kein Treffen von friedliebenden, gemäßigten Figuren. Auf der Gästeliste stehen Leute wie der rechtsextreme französische Essayist und Politiker Eric Zemmour oder der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Ehrengast ist Gerhard Ludwig Müller, also der Kardinal, der die Kritik an der Katholischen Kirche wegen des sexuellen Missbrauchs als eine "künstliche Wut" bezeichnet hat, die an ein Pogrom erinnere. Jeder rechtschaffende Demokrat bekäme ohne Zweifel Bauchschmerzen, wenn er sich einige Redebeiträge bei dieser Konferenz anhören müsste. Aber muss man die Veranstaltung dafür im Vorhinein verbieten? Einige Brüsseler Bürgermeister, allen voran Philippe Close, haben das getan. Als sie schlussendlich in Saint-Josse stattfand, ließ Emir Kir sie unterbrechen. Auf diese Weise hat man der extremen Rechten Tür und Tor geöffnet, um wieder in ihre Paraderolle zu schlüpfen: die des bedauernswerten Opfers.
Scheinwerfer auf den tingelnden Zirkus
Und obendrauf hat man diesen Leuten auch noch eine ungeahnte Bühne gegeben, beklagt Het Nieuwsblad. Normalerweise fristet diese "National Conservatism Conference" ein Schattendasein, fernab jeglicher Medienaufmerksamkeit. Dieser Zirkus von erzkonservativen und rechtsradikalen Ideologen tingelt schon seit einiger Zeit über den Globus; in den letzten Jahren machte er unter anderem Halt in Miami oder London. Einer breiten Öffentlichkeit war die Veranstaltung dafür nicht bekannt. Bis gestern. Die Brüsseler Behörden, im Besonderen Emir Kir, haben es durch ihr amateurhaftes Vorgehen geschafft, dass plötzlich alle Scheinwerfer auf diese NatCon gerichtet sind. Dies hat den unschönen Nebeneffekt, dass sich Leute wie Viktor Orban oder auch der Brexit-Prophet Nigel Farage als Märtyrer hinstellen und auch noch Sympathien einfahren konnten. Das Brüsseler Schmierentheater hat dem Ruf des Landes massiv geschadet. Insbesondere Emir Kir hätte sich an ein Zitat erinnern sollen, das dem französischem Philosophen Voltaire zugeschrieben wird: "Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen."
Auch Het Laatste Nieuws bemüht diesen berühmten Ausspruch des französischen Vordenkers der Aufklärung. Die Brüsseler Dorfpolitiker haben jedenfalls genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie wohl beabsichtigt haben: Sie haben Rechtsextremisten aller Couleur alle guten Gründe gegeben, ihre aufrichtige Empörung zum Ausdruck zu bringen. Die rechtextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni durfte demonstrativ die Kinnlade runterfallen lassen. Viktor Orban durfte über die Beschneidung der Meinungsfreiheit jammern; ausgerechnet Orban, der Andersdenkenden im eigenen Land den Mund verbietet. Premier De Croo blieb gar nichts anders übrig, als die Brüsseler Kommunalbarone entschieden zurechtzuweisen, indem er sie an die Verfassungsgrundsätze erinnerte. Denn eigentlich war unsere Hauptstadt immer ein Leuchtturm von Liberalismus und Freiheit; heute zeigt sich Brüssel vor allem kleinkariert und engstirnig.
Beschwerde gegen "zurückdrehende Zähler"
Einige Zeitungen beschäftigen sich außerdem mit einem drohenden neuen gemeinschaftspolitischen Konflikt. Die flämische N-VA-Umweltministerin Zuhal Demir hat nämlich vor dem Staatsrat Beschwerde eingelegt gegen die wallonische Prosumer-Regelung für Photovoltaik-Nutzer. Bis 2030 gilt im südlichen Landesteil noch das Prinzip des "zurückdrehenden Zählers". Demnach wird also das Einspeisen von Strom de facto vergütet. In Flandern wurde eine vergleichbare Regelung durch den Verfassungsgerichtshof gekippt.
Demir gönnt also den Wallonen nicht, was ihr selbst verweigert wurde, konstatiert De Morgen. Rein inhaltlich mag sie in einigen Punkten nicht Unrecht haben. So kann es etwa tatsächlich so aussehen, als müssten am Ende die flämischen Stromkunden zumindest teilweise für die wallonische Vorteilsregelung bezahlen. Aber muss man ein solches Problem wirklich durch einen Richter klären lassen? Wäre es nicht viel eleganter gewesen, das Gespräch mit den wallonischen Kollegen zu suchen? Die N-VA plädiert doch eigentlich für einen erwachsenen Konföderalismus. Davon sind wir im vorliegenden Fall weit entfernt.
In der Wallonie erlaubt, in Flandern verwehrt
Der flämische Löwe zeigt hier noch einmal sein wahres Gesicht, zischt auch L'Avenir. Dass den Wallonen das erlaubt ist, was den Flamen verwehrt blieb, das konnte die N-VA-Ministerin natürlich nicht so stehen lassen. Wo kämen wir denn da hin? Eine solche Chance wollte sich Zuhal Demir nicht entgehen lassen. Zumal man aus dieser Geschichte wieder ein Symbol für die Anomalien des komplexen belgischen Staates machen kann. Ironischerweise hat Demir ihre Beschwerde ausgerechnet an dem Tag angekündigt, an dem die N-VA ihre wallonischen Wahllisten präsentiert hat. Ein regelrechter Offenbarungseid, zeigt sich doch hier, dass es der N-VA immer nur um die flämischen Interessen geht, nicht um eine gemeinsame Zukunft.
Roger Pint