"Beispiellos entgleist: Peinlicher Skandal bei der belgischen Armee", titelt De Morgen. "Militärischer Zug aufgelöst nach menschenverachtenden Vorfällen", schreiben Gazet van Antwerpen und L'Avenir auf Seite eins. "Erniedrigungen, physische Strafen, Drogen, Waffenhandel: Jahrelang lief alles falsch, aber alle haben sie geschwiegen", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad.
Thema Nummer eins sind heute die Missstände in der Kaserne des 4. Pionierbataillons in Amay bei Lüttich, die die Armee-Spitze selbst gestern bekannt gemacht hat. Demnach herrschte insbesondere innerhalb eines Zugs ein regelrechtes Terrorregime. Die Rede ist unter anderem von menschenverachtenden Taufritualen für Neuankömmlinge. La Dernière Heure spricht in diesem Zusammenhang von "Horrortaufen". Und auch darüber hinaus machten einige Soldaten und sogar Offiziere offensichtlich regelrecht was sie wollten. "Die Soldaten haben sogar Waffen an die Mafia verkauft", schreibt Het Laatste Nieuws in fetten Buchstaben auf Seite eins. Alle Beteiligten wurden zum Schweigen gezwungen, innerhalb des Zugs herrschte absolute Omerta. Der betreffende Zug wurde mit sofortiger Wirkung aufgelöst.
Wie Clockwork Orange
Hinter uns liegt eine veritable Horrorwoche, meint Gazet van Antwerpen nachdenklich in ihrem Leitartikel. Erst der Folter-Vorfall in der Haftanstalt von Antwerpen, der letztlich nur beispielhaft für die unmenschlichen Bedingungen in unseren Gefängnissen steht. Und obendrauf kamen dann gestern noch die Enthüllungen über dramatische Missstände in der Armeekaserne von Amay. Angesichts der Entgleisungen, die sich dort zugetragen haben sollen, fehlen einem die Worte. Verstörend ist vor allem die Tatsache, dass das offensichtlich über Jahre so ging. Die Armeespitze soll zwar schon vor zwei Jahren Hinweise auf mögliche Missstände erhalten haben. Man hat aber nicht entschlossen genug reagiert. Und das Resultat ist jetzt, dass das Image der Streitkräfte insgesamt besudelt wurde.
"Man fühlt sich an den Film Clockwork Orange erinnert", findet Le Soir. Darin inszeniert Regisseur Stanley Kubrick eine regelrechte Gewaltorgie. Nicht anders kann man beschreiben, was sich in der Kaserne von Amay über die Jahre etabliert hatte: Körperverletzung, Erpressung, Nötigung, unmenschliche Behandlung - und über dem Ganzen lag eine bleierne Omerta. Bis zum Beweis des Gegenteils geht es hier erstmal nur um den "Zug von Amay". Doch ist der Skandal jetzt schon ein Desaster für die gesamte Truppe. Besonders tragisch ist das Ganze, wenn man sich den aktuellen Kontext vor Augen führt: Auf dem europäischen Kontinent herrscht Krieg. Die Streitkräfte sind damit wieder in den Mittelpunkt gerückt. Aktuell werden neue Rekruten gesucht. Und die haben doch eigentlich ein Recht darauf, so behandelt zu werden, wie es sich gehört.
Ausgerechnet jetzt
Het Laatste Nieuws sieht das ähnlich: Vor einigen Jahren hatte schon der Fall des radikalisierten Elitesoldaten Jürgen Conings ernste Fragen aufgeworfen, Fragen in Bezug auf die nötigen Sicherheitsriegel innerhalb der Truppe. Und was sehen wir jetzt? In Amay wurden Soldaten systematisch erniedrigt und terrorisiert, da wurden Drogen missbraucht und verkauft. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Landesverteidigung nach Jahrzehnten der Sorglosigkeit wieder gesellschaftlich in den Vordergrund gerückt ist. Ja, dies ist bislang nur ein Skandal innerhalb eines Zugs. Und nein, das darf man erstmal nicht verallgemeinern. Dennoch die Frage: Wie kann man künftige Rekruten oder Reservisten davon überzeugen, dass sie nicht irgendwann buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen dastehen?
De Morgen bemüht das gleiche Bild. Nach Jahrzehnten eines verhältnismäßigen Schattendaseins haben die Streitkräfte seit dem Krieg in der Ukraine wieder eine wirkliche Existenzberechtigung. Es wird wieder in die Truppe investiert und sie soll personell wieder aufgestockt werden. Und da steht man dann plötzlich als junger Rekrut in der Kaserne von Amay mit – im wahrsten Sinne des Wortes – heruntergelassenen Hosen, wird geschlagen und gedemütigt. Von den übrigen Vorwürfen ganz zu schweigen. Wenn die Armee-Verantwortlichen jetzt nicht schnell glaubhafte Maßnahmen ergreifen, dann stehen die Streitkräfte bald selbst in der Unterhose da.
Das größte Problem war im vorliegenden Fall die Omerta, das Gesetz des Schweigens, ist La Libre Belgique überzeugt. Die Soldaten wurden mit allen Mitteln gezwungen, den Mund zu halten, niemandem von den Missständen und Übergriffen innerhalb des Zugs zu erzählen. Das erinnert letztlich auch ein bisschen an den Leidensweg des jungen Studenten Sanda Dia, der 2018 bei einem aus dem Ruder gelaufenen Taufritual ums Leben kam. In beiden Fällen geht es um geschlossene Zirkel, in denen Traditionen und angebliche Kameraderie zu einer toxischen Gemengelage führen können. Einen solchen Teufelskreis durchbrechen können nur mutige Opfer. Entsprechend braucht man für solche Leute geeignete Anlaufstellen.
Ein "Staat im Staat"?
Und offensichtlich brauchen vor allem die Streitkräfte eine neue Betriebskultur, fordert Het Nieuwsblad. Seit einigen Jahren jagt bei der Armee ein Skandal den nächsten. Man erinnere sich nur an den Rechtsextremisten Jürgen Conings, der trotz seiner Einstufung als potenzieller Gefährder einfach in die Waffenkammer seiner Kaserne spazieren konnte, um sich auszurüsten. Gerade erst wurde bekannt, dass einige belgische Fallschirmjäger in einem Café in Norwegen eine Schlägerei angezettelt haben. Und jetzt der Fall in Amay. Besonders beunruhigend ist in diesem Zusammenhang, dass es bereits 2021 erste Hinweise auf die Missstände in der Kaserne gab. Bei all diesen Zwischenfällen gibt es einen roten Faden: Man wird den Eindruck nicht los, dass die Verantwortlichen nach wie vor versuchen, Dinge, die nicht ins Bild passen, unter den Teppich zu fegen. Das Gesetz des Schweigens scheint sich durch die ganze Truppe zu ziehen. Man hat das unangenehme Gefühl, dass so mancher bei den Streitkräften immer noch glaubt, dass bei der Armee andere Gesetze gelten als in der zivilen Welt. In seiner extremsten Auslegung nennt man so etwas "einen Staat im Staat".