Die Arbeitgeberseite und die christliche Gewerkschaft hatten den Text, den die Spitzenvertreter der Sozialpartner Mitte Januar verabschiedet hatten, zwar bereits gutgeheißen, doch gestern wurde er sowohl von der liberalen als auch von einer großen Mehrheit der sozialistischen Gewerkschaft verworfen. Damit muss nun die geschäftsführende Regierung Leterme entscheiden, ob das Abkommen angewandt wird oder nicht.
Le Soir spricht vor diesem Hintergrund von einem Fiasko und schreibt, jetzt hat auch das belgische Sozialmodell Sand im Getriebe. Und daran sind jene, die die Tarifvereinbarung ablehnen, sicherlich nicht schuldlos.
Die sozialistische und die liberale Gewerkschaft lehnen mit ihrem Nein eine über 4%-ige Lohnerhöhung in den nächsten zwei Jahren ab. Davon wagen die Arbeitnehmer in vielen anderen europäischen Ländern nicht einmal zu träumen. Auch findet Le Soir, dass seitens der Gewerkschaften gewisse Zugeständnisse hinsichtlich der Vereinheitlichung des Angestellten- und Arbeiterstatuts erwartet werden dürfen.
La Libre Belgique notiert zum gleichen Thema: "Alles geht den Bach runter". Besonders scharf kritisiert die Zeitung den Aufruf der sozialistischen Gewerkschaft zu einem landesweiten Streik am 4. März. Indessen fordert sie die Regierung auf, das Abkommen in seiner derzeitigen Form anzuwenden, denn dies entspricht der Aufforderung des Königs an die Regierung Leterme, alles zu tun, um den Wohlstand des Landes und seiner Bevölkerung zu gewährleisten.
Het Belang van Limburg bezweifelt, dass die nur noch geschäftsführende Regierung dazu bereit sein wird. In diesem Fall müssten nämlich die Minister der frankophonen Sozialisten etwas durchsetzen, das von den Genossen der sozialistischen Gewerkschaft abgelehnt wurde. Dies würde schon eine gehörige Portion politischen Mut verlangen, und das ist wahrscheinlich zu viel erwartet.
Ähnlich sieht es auch Gazet van Antwerpen: Für die Regierung Leterme dürfte es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, das Rahmentarifabkommen in seiner derzeitigen Form umzusetzen. PS-Präsident Di Rupo wird seine Minister wohl kaum etwas in Kraft setzen lassen, was von der großen Mehrheit der sozialistischen Gewerkschaft verworfen wurde.
Gefährliches Signal an die Finanzmärkte
Schade, sagt dazu Het Nieuwsblad, denn diese Lohnvereinbarung wäre ein ausgezeichnetes Signal an das Ausland gewesen, dass Belgien trotz der Palaver um die Regierungsbildung nicht stillsteht. Dass man sogar noch in der Lage ist, grundlegende Reformen durchzuführen. Stattdessen werden den Spekulanten auf den Finanzmärkten eine soziale Panne und ein Generalstreik vor Augen geführt.
Vor diesem Hintergrund erinnert De Standaard in seinem Kommentar daran, dass Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Sarkozy beim gestrigen EU-Gipfel in Brüssel die Abschaffung der in Belgien traditionellen Lohn-Index-Bindung gefordert haben. Premierminister Leterme hat dies abgelehnt, was die Zeitung zu dem Kommentar veranlasst: Die meisten EU-Länder haben gewichtige Argumente und vor allen Dingen eine starke Regierung, die es ihnen erlauben, ihre eigene Politik zu verteidigen. Diese Bedingungen erfüllt Belgien heute jedoch nicht mehr.
Di Rupo zeigt Informateur die kalte Schulter
Verschiedene Zeitungen beschäftigen sich auch mit dem Informationsauftrag von Vizepremierminister Reynders im Zusammenhang mit der Bildung einer neuen Regierung. Diesbezüglich ist in Het Laatste Nieuws nachzulesen, dass Reynders sich bereits gestern mit PS-Chef Di Rupo treffen sollte, letzterer jedoch, angeblich aus privaten Gründen, nach Italien abgereist sei. Zwar wird das Treffen am kommenden Montag nachgeholt, doch hat Di Rupos Verhalten im Brüsseler Regierungsviertel für Irritation gesorgt. Daraus schlussfolgert die Zeitung, der PS-Präsident hinterlasse zumindest den Eindruck, dass der Erfolg oder das Scheitern von Informateur Reynders ihn völlig kalt ließen. Das verspricht wenig Gutes.
Bild: Eric Lalmand (belga) 11.05.2009