"Wie das 'Pipigate' die Politikwelt erbeben lässt", titelt La Dernière Heure. "'Pinkelaffäre': Van Quickenborne wird in der Kammer angehört", meldet das GrenzEcho. "'Pipigate': Der Minister gegen die Gewerkschaften", schreibt De Morgen. "Plötzlich kommt Van Quickenborne mit eigenen Bildern", liest man bei Het Laatste Nieuws. "Van Quickenborne zeigt Privataufnahmen: 'Vielleicht habe ich Luftgitarre gespielt'", bringt Gazet van Antwerpen ein Zitat des Ministers auf Seite eins.
Allein der Name "Pipigate" lässt schon ahnen, in welche Untiefen belgischer Absurditäten wir wieder abtauchen, stöhnt La Dernière Heure in ihrem Leitartikel. Also noch mal kurz zusammengefasst: Kapitel eins – Geburtstagsgäste von Justizminister Vincent Van Quickenborne pinkeln an einen leeren Polizeiwagen, der zur Bewachung vor dem Haus von Van Quickenborne steht. Der Minister leugnet, etwas davon mitbekommen oder gewusst zu haben. Kapitel zwei – Die VRT berichtet nach Einsicht in Bilder der Überwachungsvideos der Polizei (man wähnt sich ja fast schon bei "CSI: Kortrijk"), dass Van Quickenborne sehr wohl anwesend war und Bescheid gewusst hat. Kapitel drei – Der Minister veröffentlicht die Aufnahmen seiner eigenen Überwachungskameras, um die Vorwürfe zu entkräften. Illegale Aufnahmen wohlgemerkt, und das zur besten Sendezeit. Währenddessen haben sich die schlimmen Wild-Pinkler – auf Druck von ihrem Kumpel, dem Minister, der Polizei "gestellt". Die Bilanz erinnert also an das Pinkeln in einen leeren Metalleimer: Viel Lärm um nichts, ärgert sich La Dernière Heure.
Keine Lappalie
"Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten" war doch das Motto von Justizminister Van Quickenborne zum Thema Kameraüberwachung, erinnert De Morgen. Jetzt bekommt er aber plötzlich am eigenen Leib zu spüren, wie Überwachungsvideos und -bilder auf die eine oder andere Art zusammenmontiert werden können, um das oder jenes nahezulegen.
Außerdem zeigt die Affäre auch, dass die Verantwortlichen für die Kameraüberwachung offenbar nicht der Versuchung widerstehen konnten, das gesammelte Material zu missbrauchen für Manipulation und Repression, für Erpressung und persönliche Abrechnungen. Wir reden hier über Polizisten, Vertreter der Staatsgewalt, die noch ein Hühnchen zu rupfen hatten mit dem Justizminister. Wenn das einem Minister passieren kann, dann kann das jedem von uns passieren. Deswegen ist das "Pipigate" auch keine Lappalie, hier geht es um Machtmissbrauch und darum, dass unser Recht auf Privatsphäre immer weiter eingeschränkt wird, warnt De Morgen.
Die Überwachungsvideos, die Van Quickenborne veröffentlicht hat, zeigen, dass er nicht selbst gegen das Polizeiauto gepinkelt hat, rekapituliert De Standaard. Sie beweisen aber nicht, dass er nicht wusste, was seine Gäste getrieben haben. Sie beweisen allerdings auch nicht, dass er etwas davon gewusst hat. Denn die Videoaufnahmen der Polizei von den Wild-Pinklern, die zeigen könnten, ob der Minister selbst vor dem Haus stand während ihrer Taten, sind noch nicht freigegeben worden.
Vollkommen unbegreiflich ist aber einmal mehr, wie ungeschickt Politiker und öffentliche Figuren in Krisen manchmal kommunizieren. Nicht die komplette Wahrheit zu erzählen, kommt doch immer wie ein Bumerang zurück. Am Donnerstag wird sich der Minister in der Kammer erklären müssen. Die entscheidende Frage wird sein, ob er seine politischen Aufgaben noch erfüllen kann. Angesichts seiner gestörten Beziehungen zur Polizei ist das eine wichtige Frage. Und es ist eine Frage, die Van Quickenborne beantworten muss, unterstreicht Gazet van Antwerpen.
Eine Frage der politischen Prioritäten
Der größte Witz an der Geschichte ist, dass es das Parlament für notwendig hält, seine Sommerpause zu unterbrechen für die Anhörung des Justizministers, verdreht Het Laatste Nieuws die Augen. Die furchtbare Drogengewalt war den Politikern dafür nicht wichtig genug, genauso wenig wie die erbärmlichen Zustände am Brüsseler Südbahnhof. Aber wenn sich die Chance bietet, einem politischen Gegner eins auszuwischen wegen einem Pinkel-Zwischenfall, dann ist es plötzlich gerechtfertigt, einen Kammerausschuss verfrüht zusammenzurufen. Damit untergraben sich die Politiker doch wieder einmal nur selbst. Wer soll denn auch verstehen, dass Politik und Polizei alles in Bewegung setzen, um ein paar Wild-Pinkler zur Rechenschaft zu ziehen? Während in Brüssel die Bürger rund um den Nordbahnhof das Heft selbst in die Hand nehmen müssen, weil die Polizei sich zu wenig zeigt auf den Straßen?, empört sich Het Laatste Nieuws.
Die Opposition lässt natürlich keine Chance aus, um gegen die Föderalregierung zu keilen, hält Gazet van Antwerpen fest, das ist das Spiel der Politik. Die Regierung ist zwar schon angeschossen, aber der Kammerausschuss Justiz ist eine Möglichkeit, sie noch weiter zu diskreditieren. Es ist an Vincent Van Quickenborne, hier einen Schlussstrich unter die Affäre zu ziehen. Damit wir die Sache abhaken können und damit sich Regierung und Opposition wieder mit Themen beschäftigen können, die wirklich wichtig sind, so Gazet van Antwerpen.
Die Extremisten können sich die Hände reiben
Es gibt ihn also doch noch, den berühmten Alpha-Mann, der an jede Ecke pinkeln muss, um sein Revier zu markieren, stichelt L'Avenir. Nach dem N-VA-Parlamentarier Theo Francken, der in Brüssel Blumenkübel gewässert hat, nun also die Freunde des Justizministers an einem Polizeiauto. Francken scheint sein Fehltritt nicht groß zu verfolgen, man will sich aber gar nicht vorstellen, was für ein Aufstand es gewesen wäre, wenn es sich um eine Abgeordnete gehandelt hätte.
Die entscheidende Frage bei Van Quickenborne ist derweil nicht, ob es seine Aufgabe gewesen wäre, seine Gäste besser zu kontrollieren, das war es nämlich nicht. Aber es ist wichtig, zu klären, was er wann gewusst hat, denn da geht es nicht mehr um Benimmfragen, sondern um Ehrlichkeit.
Falls keine neuen Beweise mehr auftauchen, wird sich Van Quickenborne zweifelsohne aus der Affäre ziehen können, wenn auch mit einigen neuen Kratzern. Anders sieht es für die politische Klasse an sich aus, deren Ansehen erneut beschädigt wird – wovon insbesondere die Extremen von rechts profitieren werden, meint L'Avenir.
Boris Schmidt