"Eine Kundgebung mit großem Fragezeichen" titelt heute L'Avenir. Le Soir und La Libre Belgique stellen auf Seite 1 exakt dieselbe Frage: Wie viele werden es sein?
Für morgen haben fünf Studenten zu einem Bürgerprotest aufgerufen. Kernforderung: Die jungen Leute wollen nach sieben Monaten politischen Stillstands eine neue Regierung, die wichtige Weichen für die Zukunft stellen sollte. Was als einfacher Appell auf Facebook begann, hat sich längst zu einem regelrechten "Hype" entwickelt. Wenigstens 20.000 Menschen haben im Internet ihr Kommen zugesagt. Die Veranstalter bestehen darauf, dass die Kundgebung politisch neutral sein soll: Man will für keine Seite Partei ergreifen.
Das stimmt aber nur bedingt, meint L'Avenir. Die Kundgebung ist in dem Sinne nicht politisch neutral, als sie der Ausdruck eines Überdrusses ist. Die Bürger fühlen sich beraubt: Sie sind am 13. Juni ihrem demokratischen Recht nachgekommen und heben gewählt. Diese Wahl hat sich aber zumindest bislang als nutzlos erwiesen. Wenn man sich nicht mehr über die Urne Gehör verschaffen kann, dann blieben nur noch Facebook und die Straße. Selbst wenn sich die Kundgebung morgen als Flop erweist, kann man zumindest sagen: Wir haben alles versucht.
Zu vage und naiv?
Andere Zeitungen stehen der Demo deutlich kritischer gegenüber. So zum Beispiel La Libre Belgique: Dass die Jugend plötzlich wieder politisches Engagement an den Tag legt, ist zwar lobenswert. Die Botschaft der Kundgebung ist aber leider viel zu vage. Das Land hätte schnell eine neue Regierung, man müsste nur die N-VA -Forderungen unterschreiben. Ist es das, was die Demonstranten wollen? Und eben weil die Botschaft so allgemeingültig ist, werden morgen wohl auch die unterschiedlichsten Leute durch Brüssel marschieren, mit den unterschiedlichsten Forderungen, bis hin zum Protest gegen den katastrophalen Zustand der Straßen. Und eins ist jetzt schon klar: Die N-VA wird das Ganze kaum beeindrucken.
Het Belang van Limburg warnt sogar davor, dass der Schuss nach hinten losgehen könnte. Schon jetzt muss der N-VA-Wähler den Eindruck haben, er werde an den Pranger gestellt. Sollten es jetzt vor allem Frankophone sein, die morgen in Brüssel demonstrieren, dann ist die Gefahr groß, dass die frankophonen Parteien das als Marschbefehl gegen die N-VA deuten. Die Erfüllung der Forderung nach einer neuen Regierung würde damit aber nur noch langwieriger.
Ausdruck der Demokratie?
Le Soir ärgert sich hingegen über die vorherrschende rein realpolitische Deutung der Kundgebung. Man legt Geringschätzung an den Tag, wenn man die vielleicht simple Botschaft der Demo kritisiert oder ihr gar im Vorfeld jegliche politische Konsequenz abspricht. Das ist arrogant und dumm. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Und die Bürger werden sich doch wohl noch nach über 200 Tagen Stillstand Fragen stellen dürfen. Und je mehr Demonstranten es morgen sein werden, desto größer ist auch die politische Relevanz.
De Standaard sieht das zumindest im Grundsatz ähnlich und fasst es zugleich prägnant zusammen: Wenn viele Menschen morgen den Weg nach Brüssel finden, dann kann man das doch nur positiv bewerten. Das bedeutet doch, dass die Bürger die politischen und gesellschaftlichen Fragen wichtig genug finden, um sich einzumischen. An solchen Tagen zeigt die Demokratie ihre Kraft, und das ist fantastisch. Doch birgt die Kundgebung auch Gefahren. Erstens: Die Last der Verantwortung auf den Schultern der Veranstalter ist längst größer als ihnen lieb ist. Zweitens: Die Wege zum Ziel sind unterschiedlich. Wenn es einmal eine neue Regierung gibt, wie ja gefordert, dann dürfte der Preis dem einen oder anderen nicht gefallen. Und drittens: Die Gefahr ist groß, dass die Demonstranten ab Sonntagabend von der einen oder anderen politischen Seite instrumentalisiert werden. Und das wäre das traurige Endresultat einer absolut bemerkenswerten Initiative.
So geht es nicht weiter!
Währenddessen drehen die Verhandlungen um das Trio Vande Lanotte, Di Rupo und De Wever weiter im Kreis, wie unter anderem La Libre Belgique hervorhebt. Vor diesem Hintergrund lanciert die Wirtschaftszeitung L'Echo heute einen beeindruckenden Appell an die politische Klasse, nun endlich einen Ausweg zu finden: "20 Gründe, weshalb wir schnellstens eine Regierung brauchen" titelt das Blatt und lässt auf mehreren Sonderseiten Prominente, Intellektuelle, Kulturschaffende, Wirtschaftsexperten und Industriekapitäne darlegen, warum es so nicht weitergehen kann.
Straßenmaut: nur heiße Luft?
Het Laatste Nieuws kommt seinerseits noch einmal auf die geplante Einführung einer Straßenmaut ab 2013 zurück. Die flämische Regierung hat ja erst gestern formal dem entsprechenden Grundsatzabkommen zwischen den drei Regionen zugestimmt. Die Gefahr ist groß, dass es sich hier nur um heiße Luft handelt, meint das Blatt in seinem Leitartikel. Das wird doch langsam zur Krankheit: Da werden Entscheidungen getroffen, bei denen noch nicht einmal ansatzweise die Einzelheiten geklärt sind. Wie die Maut technisch in die Praxis umgesetzt werden soll, welche finanziellen Folgen sie haben wird: Fragezeichen. Von einer globalen Herangehensweise mit Blick auf die Mobilitätspolitik von morgen ganz zu schweigen. Und das soll in zwei Jahren funktionieren? Da kann man doch nur müde lächeln.
Weglaufende Geschäfte
De Standaard und Het Nieuwsblad bringen heute eine spektakuläre Meldung. Demnach sind 1.140 verurteilte Straftäter flüchtig. Sie haben sich kurz vor ihrer Inhaftierung dem Zugriff der Behörden entzogen. Und hier geht es um "schwere Jungs", hebt Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel hervor. Haftstrafen unter drei Jahren werden ja schon gar nicht mehr angewandt. Gerade einmal sechs Polizisten sind dafür zuständig, die über 1.100 Flüchtigen aufzuspüren. Das ist ganz einfach unbegreiflich. Nur die Regierung könnte über eine Erhöhung der Mittel Abhilfe schaffen, sie kann aber nichts tun, weil sie ja nur die laufenden Geschäfte verwaltet. Im vorliegenden Fall müsste man sagen: die weglaufenden Geschäfte.
Euthanasie-Kliniken
De Morgen widmet seine Titelseite einer bemerkenswerten Forderung eines Universitätsprofessors: Der plädiert dafür, nach niederländischem Vorbild auch in Belgien so genannte Euthanasiekliniken zu schaffen. Also Einrichtungen für todkranke Patienten, die den Wunsch haben, ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Dies natürlich im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen. Kommentierend meint dazu das Blatt: Es gibt da durchaus eine Nachfrage. Immer noch verweigern Ärzte oder Krankenhäuser Patienten den Wunsch nach Euthanasie, der doch eigentlich vom Gesetzgeber abgesichert und legitimiert ist.
Vor diesem Hintergrund verdient die Forderung nach Euthanasiekliniken zumindest eine offene und ehrliche Debatte. Doch wäre das Problem eigentlich schnell gelöst: Alle Krankenhäuser und Ärzte müssten sich einfach nur an das Gesetz halten. Wenn man Euthanasiekliniken schafft, dann würde man den Verweigerern auch noch recht geben. Dann stünden ihre Überzeugungen am Ende gar über dem Gesetz.
Bild: belga