"Jeden zweiten Tag stirbt ein schwacher Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr", titelt De Morgen. 2022 sind demnach allein 95 Radfahrer getötet worden, so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Und auch insgesamt gab es mehr Tote im Straßenverkehr: Im vergangenen Jahr stieg die Zahl um acht Prozent im Vergleich zu 2021.
La Dernière Heure spricht in ihrem Leitartikel denn auch von einem "Annus horribilis", einem schwarzen Jahr. Die Unfallstatistiken 2022 sind so schlecht wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Ursachen sind häufig menschliches Versagen oder die ungenügende Infrastruktur. Aber oft genug ist es auch unverantwortliches, rücksichtsloses Verhalten. Und gerade in diesem Zusammenhang ist Belgien ein Beispiel für eine zu laxe Politik. Die Strafen für Verkehrsrowdys sind nach wie vor zu milde, was gerade bei den Angehörigen von Verkehrsopfern für Unverständnis und Empörung sorgt. Und das völlig zu Recht.
Die neuesten Statistiken des Instituts für Straßenverkehrssicherheit Vias sind ebenso ernüchternd wie makaber, meint auch L'Avenir. Hatte man es sich nicht zum Ziel gesetzt, die Zahl der Verkehrsopfer bis zum Jahr 2050 auf Null zu reduzieren? Nun, davon sind wir weit entfernt. Schlimmer noch: Die Zahl der Verkehrsopfer steigt sogar wieder. Und besonders gefährdet sind zudem die schwachen Verkehrsteilnehmer. Klar: Man kann, man muss vielleicht sogar die Ursachen hinterfragen.
Vor allem Speed-Pedelecs sind ein Problem
Nur sind die im Wesentlichen bekannt: Überhöhte Geschwindigkeit, Fahren unter Drogen- oder Alkoholeinfluss, oder einfach nur Zerstreutheit oder Ablenkung. Aber, statt Schuldige zu suchen, sollten wir einfach nur die Augen öffnen: So kann es nicht weitergehen. Diese Unfallstatistiken müssen für Verkehrsteilnehmer und Politiker gleichermaßen ein Weckruf sein. Warum zum Beispiel wurde hierzulande immer noch nicht der Punkteführerschein eingeführt?
"Die Verkehrsstatistiken schocken doch eigentlich längst niemanden mehr", stellt aber Het Belang van Limburg mit Bedauern fest. Für die meisten sind es doch einfach nur Zahlen, die lapidar kommentiert werden mit Sätzen wie: "Menschen sterben nun mal, auch im Straßenverkehr. Das gehört eben leider dazu". Damit darf sich eine Gesellschaft nicht zufriedengeben! Experten fordern noch mehr Investitionen, um die Straßen fahrradfreundlicher zu gestalten, noch mehr Polizeikontrollen, eine zielgerichtete Straßenmaut, um LKWs aus der Umgebung von Schulen oder aus Wohngebieten zu verbannen. In Sachen Verkehrssicherheit darf es keine Tabus geben. Und deswegen sollte man auch über Geschwindigkeitsbegrenzungen für Elektrofahrräder nachdenken. Und vielleicht sogar über ein Verbot der sogenannten E-Steps, also von Elektrorollern.
Gazet van Antwerpen sieht das ähnlich. Vor allem mit den sogenannten Speed-Pedelecs wird man sich beschäftigen müssen. Diese E-Bikes erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 45 km/h. Das darf aber nicht bedeuten, dass sie immer und überall so schnell fahren müssen. In einem Wohngebiet ist ein solches Tempo schlichtweg unverantwortlich. Die einzige Möglichkeit ist, für diese superschnellen Speed-Pedelecs je nach Umgebung Geschwindigkeitsbegrenzungen vorzusehen. Das ist vergleichbar mit dem Auto: PKWs können auch locker 180 km/h und oft mehr erreichen. Was auch nicht bedeutet, dass man überall Vollgas geben darf.
Bouchez kritisiert Sicherheitsnormen für Kernkraftwerke
Insgesamt brauchen wir aber vor allem noch mehr Sensibilisierung, ist De Morgen überzeugt. Das fängt schon beim Sprachgebrauch an. "Radfahrer rast in geöffnete Autotür", diese Schlagzeile liest man häufiger mal. Als ob diese Autotür – Hokuspokus – von selbst aufgegangen wäre. Eigentlich muss es heißen: "Autofahrer reißt Autotür auf und trifft Radfahrer". Oder auch: "LKW-Fahrer fährt Fußgänger tot". Klar klingt das schockierend, es entspricht aber eben den Tatsachen. Vor solch "schmerzhafter Ehrlichkeit" scheint unsere Gesellschaft allerdings immer noch zurückzuschrecken. In der Zwischenzeit wundert sich der Belgier anscheinend immer noch jedes Jahr darüber, dass die Unfallstatistiken partout nicht sinken wollen. Dabei weiß jeder, dass man dafür Daumenschrauben braucht, angefangen beim Punkteführerschein. Den entsprechenden Beschluss gibt es schon seit 30 Jahren. Nur umgesetzt wurde er nie. Gerade rechte Parteien machen doch die Sicherheit zu ihrer Priorität Nummer eins. Nun, das gilt offenbar nicht für den Straßenverkehr.
"Bouchez findet die Sicherheitsnormen für Kernkraftwerke zu streng", titelt derweil De Standaard. Der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez stellt sich die Frage, warum für Atomkraftwerke in Belgien strengere Normen gelten als es die internationalen Kontrollinstanzen vorschreiben. Zum Beispiel müssen die drei ältesten Reaktorblöcke künftig auch gegen Flugzeug-Einschläge geschützt sein. Und wegen dieser Auflage ist ein Weiterbetrieb nach 2025 bis auf Weiteres nicht möglich.
Flüchtlingskrise: Eine mutlose "Pflasterpolitik"
Einige Leitartikler beschäftigen sich schließlich mit der anhaltenden Asylkrise. Die Föderalregierung schafft es nach wie vor nicht, allen ankommenden Flüchtlingen gleich eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Das geht so weit, dass ein Richter in den Niederlanden einen Asylbewerber nicht nach Belgien abschieben wollte wegen der hierzulande herrschenden "menschenunwürdigen Bedingungen". "Das ist doch ziemlich scheinheilig", giftet aber Het Laatste Nieuws. Zugegeben: Unser Asylsystem ist gerade am Limit. In Holland haben aber auch schon Flüchtlinge auf der Straße übernachten müssen. Noch dazu denkt man im nördlichen Nachbarland darüber nach, Asylbewerber in afrikanische Länder wie Ruanda auszufliegen. Ist das wirklich humaner? Das alles heißt natürlich nicht, dass die Föderalregierung hier nicht schnellstens nachbessern muss.
"Aber bitte keine halben Sachen mehr!", fordert Le Soir. Vor allem in den letzten Tagen hat man gesehen, dass akute Probleme immer nur durch Behelfslösungen korrigiert werden. Ein Pflaster hier, ein Pflaster da. Das ist der beste Beweis dafür, dass diese Föderalregierung mit der Lage überfordert ist. Es gibt keinerlei politische Vision und auch keinen politischen Mut. Und dann beschränkt man sich eben auf eine solche "Pflasterpolitik", statt das Übel bei der Wurzel zu packen.
Roger Pint