"Frohe Weihnachten!", wünschen Het Laatste Nieuws, La Libre Belgique, L'Avenir und das GrenzEcho auf Seite eins. Viele Zeitungen kommen heute natürlich sehr besinnlich daher. Wobei man den aktuellen Kontext auch nicht ausblendet. "Wir feiern lieber ohne Strom als mit den Russen!", so etwa die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. Zu sehen sind Bilder aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. In den letzten Jahren waren die großen Plätze in der Stadt festlich geschmückt und glichen einem Lichtermeer. In diesem Jahr ist es dunkel, man sieht nur die Konturen eines Weihnachtsbaums.
"Frieden auf Erden", das ist eigentlich das, was man sich jedes Jahr zu Weihnachten wünscht. Diesmal ist das aber mehr als nur eine hohle Floskel, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Noch vor einem Jahr haben die wenigsten ernsthaft geglaubt, dass Russland tatsächlich in die Ukraine einmarschieren würde. "Undenkbar!", dachten viele. Ein Krieg auf europäischem Boden, ein brutaler Angriff auf ein Nachbarland ... Die meisten gingen davon aus, dass so etwas im 21. Jahrhundert nicht mehr passieren würde. Jetzt, genau ein Jahr später, feiern die Einwohner von Kiew Weihnachten im Dunkeln und ohne fließendes Wasser. Nächstes Jahr um diese Zeit werden wir uns wieder "Frieden auf Erden" wünschen. Hoffentlich ist Kiew dann nicht noch immer ohne Strom.
Wir werden vieles überdenken müssen
De Standaard sieht das ähnlich. Die letzten beiden Weihnachtsfeste standen im Zeichen der Hoffnung. Man wünschte sich von Herzen, dass wir die Pandemie hinter uns lassen und wieder zur Normalität zurückkehren können. An einen echten Krieg auf europäischem Boden haben damals die wenigsten geglaubt. Was für ein Irrtum! Jetzt erleben wir jedenfalls nicht weniger als das Ende einer Ära. Die Sicherheiten, auf die wir in den letzten Jahrzehnten gebaut haben – billiges Geld, geopolitische Stabilität, technologischer Fortschritt – all das ist nicht mehr länger garantiert. Der Krieg hat uns jedenfalls die Augen geöffnet. Wir werden vieles überdenken müssen. Wo werden wir zu Weihnachten im kommenden Jahr stehen? Auf eine neue überraschende, positive Wendung zu hoffen, das ist aus heutiger Sicht schon sehr verwegen.
Lasst uns mal auf den eigenen Nabel schauen, meint sinngemäß L'Avenir. In diesem Jahr kann das Weihnachtsfest endlich wieder ohne Einschränkungen stattfinden. In den letzten zwei Jahren mussten wir über Kontaktblasen sprechen, die Gäste am Weihnachtstisch zählen und insgesamt ein schlechtes Gewissen haben. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Naja, sind sie das wirklich? Die Corona-Zahlen ziehen nämlich wieder an. Im Augenblick müssen wieder mehr als 2.000 Covid-Patienten in Krankenhäusern behandelt werden. Nicht zu vergessen die vielen Menschen, die derzeit an Grippe oder Atemwegserkrankungen leiden. Das sollte uns zwar nicht die Festtage vermiesen. Man sollte aber auch nicht Oma und Opa vergessen und zumindest darüber nachdenken, wie man ältere oder geschwächte Personen schützen kann.
Krankenhäuser wieder voll
Het Laatste Nieuws bringt heute eine Hommage an das medizinische Personal, insbesondere in den Krankenhäusern. Für diese Leute hört es einfach nicht auf. Nach zwei Jahren Covid-Stress sind die Hospitäler wieder voll. Schuld ist diesmal eben nicht Corona, sondern eine außergewöhnliche Häufung von Atemwegserkrankungen. Hier wird also mit einer Legende aufgeräumt: Es bedarf keiner Pandemie, um das Gesundheitssystem an seine Grenzen zu bringen. Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Es gibt einfach zu wenig Hausärzte, zu wenige Pflegekräfte und dem gegenüber zu viele Kranke. Mit anderen Worten: Strukturelle Probleme, die nun wirklich mal angegangen werden müssen. In der Zwischenzeit gibt es aber schon etwas, was wir tun können: Zeigen Sie noch ein bisschen mehr Verständnis und Respekt vor ihrem Hausarzt oder dem Personal in der Notaufnahme. Diese Menschen bewegen Himmel und Hölle, um ihnen auch unter schwierigsten Bedingungen zu helfen.
In diesen bewegten Zeiten ist es wohl wichtiger denn je, im Kreis seiner Lieben zu feiern, glaubt La Libre Belgique. Weihnachten kann jeden von uns, ob nun gläubig oder nicht, dazu anspornen, zumindest für einen Moment lang zum Wesentlichen zurückzukehren und sich auf die Dinge zu konzentrieren, die wirklich wichtig sind. Einen solchen Moment der Einkehr wünschen wir aber auch unseren Politikern. Auf dass die Vivaldi-Koalition sich auf den vielgerühmten belgischen Kompromiss zurückbesinnt, auf dass die Suche nach einer Lösung wieder im Vordergrund steht. Meine Damen und Herren Politiker, wenn Sie es nicht für Ihre Wähler machen, dann doch wenigstens für unsere Kinder.
Na dann: Frohe Festtage!
Apropos Innenpolitik: Das GrenzEcho sieht die Zukunft der Vivaldi-Koalition skeptisch. Die Koalitionspartner beharken sich nur noch gegenseitig. Ein gemeinsames Projekt, irgendetwas Verbindendes sucht man vergebens. Der Föderalregierung bleiben noch etwa drei Monate Bewährungsfrist, um den Trend umzukehren. Im März 2023 steht die Haushaltskontrolle an, bei der viele Projekte auf den Prüfstand kommen und die Koalitionspartner Farbe bekennen müssen. Gestern gab es allerdings – zugegeben – einen Lichtblick, nämlich die neuen Geschäftsführungsverträge für SNCB und Infrabel.
Gazet van Antwerpen geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht das Glas zur Abwechslung auch mal halbvoll. Die Weihnachtsgeschenke, die die Föderalregierung gestern präsentiert hat, sind nun auch nicht nichts. Ab dem 1. Januar werden etwa die Steuersätze nochmal indexiert, was bedeutet, dass Arbeitnehmer mehr netto herausbekommen werden. Laut Nationalbank wird Belgien darüber hinaus nicht in eine Rezession schlittern. Kurz und knapp: Es könnte schlimmer sein. Klar, es gibt da noch die astronomische Staatsschuld, die in den nächsten Jahren abgebaut werden muss. Irgendwann ist es mit der Großzügigkeit auch wieder vorbei. Dann könnte dem einen oder anderen Minister das breite Lächeln auch mal einfrieren. Dennoch: Fürs Erste schon mal Frohe Weihnachten!
Roger Pint