Neustart?
"Die Würfel sind gefallen", so lautet heute die vielleicht etwas voreilige Schlagzeile von L'Avenir. Het Nieuwsblad titelt: "Neustart oder totaler Bruch". De Morgen und La Libre Belgique sind sich einig: "Niemand wagt es, die Vande Lanotte-Note vom Tisch zu fegen". Und Le Soir schließlich geht auf seiner Titelseite schon einen Schritt weiter: "Ab morgen wird verhandelt".
Heute müssen sich die sieben beteiligten Parteien über den Kompromissentwurf des königlichen Vermittlers Johan Vande Lanotte aussprechen. Von ihrer Antwort hängt ab, ob die Verhandlungen über eine neue Staatsreform nach über vier Monaten Stillstand wieder aufgenommen werden können.
Selbst ein leises, zaghaftes, zögerliches Ja aus dem Mund der sieben Parteipräsidenten wäre für Vande Lanotte schon ein großer Sieg, bemerkt dazu L'Avenir. Vande Lanotte selbst ist offenbar sehr zuversichtlich, wie unter anderem De Standaard zu wissen glaubt. Selbst wenn die Parteien seinem Text nur unter Vorbehalt zustimmen, glaubt er offenbar, dass innerhalb von zehn Tagen die Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden können.
Eine undichte Stelle
Dabei hatte sich Vande Lanotte offenbar zunächst wieder mächtig ärgern müssen. Der Vermittler hatte ja einen enormen Aufwand betrieben, um zu verhindern, dass der Inhalt seiner Note auf dem Marktplatz landet. Die Nachrichtensperre hielt aber nur zwölf Stunden. Gestern Mittag veröffentlichte bereits die flämische Rundfunk- und Fernsehanstalt VRT die großen Leitlinien des Kompromissentwurfs.
Wie unter andrerem La Libre Belgique erfahren haben will, fahndet Johan Vande Lanotte jetzt unter Hochdruck nach dem Urheber des Presselecks. Im Verdacht hat er offenbar die flämische CD&V. Die Christdemokraten dementierten und unterstellten ihrerseits der SP.A, also der Partei von Vande Lanotte, selbst den Text weitergegeben zu haben, um die Medien günstig zu stimmen. La Libre Belgique schlussfolgert frustriert: Wieder so ein Kinderkram, während das Land immer tiefer in der Krise versinkt.
Jetzt bitte wieder verhandeln
Ergebnis des Presselecks ist jedenfalls, dass die Note des Vermittlers in ausnahmslos allen Zeitungen detailliert aufgedröselt und erklärt wird. Und in der Bewertung des Textes herrscht, zumindest in letzter Konsequenz, seltene Einmütigkeit: Die Note taugt durchaus als Gesprächsgrundlage, wenn auch noch Veränderungen nötig sind.
La Libre Belgique etwa warnt davor, jetzt Etappen zu überspringen. Im Augenblick geht es doch zunächst darum, die sieben Parteien wieder an einen Tisch zu bringen. Und die Vande Lanotte-Note ist ein gutes Argument dafür. Der SP.A-Politiker aus Ostende hat gute Arbeit geleistet. Sein Kompromissentwurf ist jedenfalls ausgewogen genug, um die Parteien dazu zu ermuntern, 206 Tag nach der Parlamentswahl endlich wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Eine große Staatsreform
Eins ist sicher: Die von Vande Lanotte vorgeschlagene Staatsreform würde eine grundlegende Neuordnung des belgischen Staatsgefüges mit sich bringen, meint die Brüsseler Tageszeitung Le Soir. Klar müssen da noch einige Ecken rundgefeilt werden; klar, das Ende des Tunnels ist noch nicht erreicht. Doch wäre es unaufrichtig, zu behaupten, dass noch nichts geschafft wurde. Es wäre jedenfalls Irrsinn, die Note vom Tisch zu fegen.
Auf flämischer Seite sieht man das im Wesentlichen ähnlich. Nun gut, meint etwa Het Laatste Nieuws, es ist vielleicht nicht die Staatsreform, von der der eifrige flämische Nationalist seit 50 Jahren träumt. Doch enthält die Note so viele neue Elemente, die es erlauben, die Hardliner auszublenden. Auf der einen Seite werden die Regionen in viel größerem Maße als bisher ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Auf der anderen Seite bleibt die Solidarität garantiert. Es kann nämlich nicht sein, dass in einem Land eine Region abgestoßen wird, nur weil sie ärmer ist.
Kein schönes Kind
Selbst die in der Regel eher unnachgiebige Gazet van Antwerpen räumt ein: Mehr konnte man nicht erwarten. Angesichts der völlig unterschiedlichen Meinungen je nach Seite der Sprachgrenze konnte der Kompromiss keinen Schönheitspreis bekommen. In gewissen Bereichen muss auch noch deutlich nachgebessert werden. Doch im Vergleich zu dem, was 2007 auf dem Tisch lag, ist es eine echte kopernikanische Revolution.
Es ist bestimmt nicht das schönste Kind, das Vande Lanotte da zur Welt gebracht hat, meint auch De Morgen. Jetzt ist die Frage, ob jeder es als das seine akzeptieren und es dann auch vor seiner Basis verteidigen wird. Doch welche wäre die Alternative? Die Note abzuschießen, das würde zu einer Staatskrise führen, die sich angesichts des internationalen Kontextes verbietet. Mit den Spielchen muss jetzt Schluss ein.
Genau von diesen Spielchen hat auch La Dernière Heure die Nase voll: Längst hat man den Eindruck, man säße in einem sehr schlechten Film. Jetzt droht wieder eine x-te Palaverrunde. Das Schlimme ist: Selbst wenn es zu einer Einigung kommt, wird das wohl den flämischen Autonomiehunger nicht stillen. Dann droht auch noch eine Fortsetzung des Streifens.
Auf sechs folgt sieben
In gewisser Weise bestätigen einige flämische Zeitungen diese Ängste. Eigentlich, so meint etwa De Standaard, steht in der Note zu wenig, um ja zu sagen, aber auch zu viel, um sie abzuschießen. Das lässt im Grunde nur eine mögliche Reaktion zu: Man betrachtet die sechste Staatsreform als eine weitere Etappe. Kommt es zu einer Einigung, dann muss sogleich mit der Arbeit an der siebten Staatsreform begonnen werden. Das muss man den Frankophonen klarmachen.
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich: Die Frankophonen müssen verstehen, dass sie sich mit dem, was da derzeit auf dem Tisch liegt, nicht 20 Jahre gemeinschaftspolitischen Frieden erkaufen können. Die sechste Staatsreform öffnet schon Tür und Tor für eine siebte. Doch muss man zugeben: Die Reform eines Land wie Belgien kann nur so funktionieren, nämlich Schritt für Schritt.