"Wie ein Champion – Wout van Aert fährt mit überragender Leistung zum Etappensieg", liest man beim GrenzEcho auf Seite eins. "Der Abflug einer Legende", jubelt La Dernière Heure. "Wout van Aert fliegt und niemand im Tourpeloton kann ihm folgen", lautet die Überschrift bei De Standaard.
Neben dem Radsport beherrschen aber vor allem diverse heftige innenpolitische Debatten die Titelseiten – und auch die meisten Leitartikel.
"Ein radikales Projekt zur Reform der Steuer auf dem Tisch der Föderalregierung", schreibt etwa L'Echo. "Gutachten für Reform der Steuer direkt abgeschossen", bringt Het Nieuwsblad die politischen Reaktionen auf ein Expertengutachten auf den Punkt. "Die Steuerreform versinkt im Gekabbel", kann De Morgen nur feststellen.
Fantasie: nicht benötigt
Die Blaupause, die die von der Föderalregierung beauftragten Experten vorgelegt haben, scheint solide und ausgeglichen, analysiert die Wirtschaftszeitung De Tijd in ihrem Leitartikel. Außerdem kommt das Gutachten den Empfehlungen der internationaler Institutionen für Belgien entgegen. Die Vorschläge würden das belgische Steuersystem einfacher machen, sie würden Schluss machen mit diversen Sonderregelungen, Vergünstigungen und Schlupflöchern und würden Einkünfte gerechter besteuern. Die Vorschläge würden auch der Wirtschaft nutzen, da sie die hohen Steuern auf Arbeit ins Visier nehmen.
Aber wie so oft ist das Entwerfen von Plänen der einfachste Teil. In der Praxis dürfte der Fiskus seine liebe Not mit der Um- und Durchsetzung haben. Das zweite große Problem ist, dass die Experten die finanziellen Folgen für den föderalen Haushalt und mögliche Auswirkungen auf die Wirtschaft nicht beziffert haben. Das größte Hindernis wird aber der Mangel an politischem Willen sein. Es ist nämlich eine Sache, einer Steuerreform prinzipiell in einer Regierungsvereinbarung zuzustimmen. Aber eine ganz andere ist es, weiter dazu zu stehen, wenn erst einmal konkrete Pläne auf dem Tisch liegen, stellt De Tijd fest.
Die Experten haben sich wirklich redlich angestrengt, findet Het Nieuwsblad, wenn auch wieder vergebens. Auch dem föderalen CD&V-Finanzminister Vincent Van Peteghem muss man zugutehalten, dass er versucht hat, die Aufgabe mit der notwendigen Ernsthaftigkeit anzugehen. Aber er wird gewusst haben, dass ihm letztlich kein Erfolg gegönnt sein würde.
MR-Präsident Georges-Louis Bouchez wischte das Gutachten denn auch umgehend als "kommunistisches Traktat" vom Tisch. Und für sein flämisches Pendant, den Open VLD-Vorsitzenden Egbert Lachaert, ist es "ein Katalog, wo Geld zu holen ist". Man braucht also nicht viel Fantasie, um zu raten, wie es weitergehen wird: Noch bevor Van Peteghem die Reformvorschläge auch nur auf den Tisch der Regierung legen kann, steht schon fest, dass alle Vergünstigungen und Schlupflöcher erhalten bleiben werden und dass die Abgaben auf Arbeit weiter zu den höchsten der Welt zählen werden, wettert Het Nieuwsblad.
Schon genug dicke Bretter auf dem Koalitionstisch
Het Belang van Limburg greift einen anderen Bericht mit Empfehlungen auf, den der föderalen Expertengruppe für Kaufkraft und Versorgungssicherheit: Die sogenannten betrieblichen Tankkarten sollen nicht mehr für private Fahrten gebraucht werden dürfen, autofreie Sonntage und eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen auf 100 Kilometer pro Stunde – mit diesen drei Vorschlägen wollen die Experten unseren Öl-Durst verringern und unsere Kaufkraft erhöhen. Außerdem plädieren sie für einen besseren Schutz der Mittelschicht und eine schnellere Indexierung der Löhne, damit Arbeitnehmer netto mehr Geld zur Verfügung haben.
Obwohl die Föderalregierung schon lange versucht, etwas gegen die enorm hohen Energiepreise und die rasende Inflation zu unternehmen, ist ihr Interesse für den Bericht arg klein. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Eine schnellere Indexierung der Löhne ist politisch ein höchst heißes Eisen, die private Nutzung von Tankkarten ist kaum zu überprüfen und auch die Idee einer Geschwindigkeitsbegrenzung stößt auf wenig Gegenliebe. So verwundert es wenig, dass die Entscheidung darüber auf nach dem Sommer vertagt worden ist, so resigniert Het Belang van Limburg.
Das GrenzEcho zeigt Verständnis für das Vorgehen der Regierung: Mit der notwendigen, ja überfälligen Reformierung der Steuer- und der Rentengesetzgebung sowie der Umsetzung der Arbeitsmarktreform hat man ja beileibe genug dicke Bretter auf dem Koalitionstisch liegen. Abgesehen davon ist auch von einer weiteren Verschärfung der Energiekrise auszugehen. Eines wird zunehmend deutlich: Egal wie das Armdrücken zwischen dem Westen und dem Kreml ausgeht, es wird den Niedergang des Autos als Statussymbol eines ganzen Zeitalters nur weiter beschleunigen, meint das GrenzEcho.
Ein qualvolles Dilemma
Seit Tagen sorgt dann auch ein möglicher Deal mit dem Iran für Diskussionsstoff: Die Kammer soll über einen Gesetzesvorschlag abstimmen, der einen Häftlingsaustausch ermöglichen würde: Ein ehemaliger iranischer Diplomat, der in Antwerpen verurteilt worden ist wegen Vorbereitung eines Terroranschlags auf iranische Exil-Politiker in Frankreich, gegen einen schwedisch-iranischen Hochschulprofessor und einen belgischen Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die beide von Teheran festgehalten werden.
Es ist ein Dilemma, kommentiert La Libre Belgique, eine qualvolle Wahl, die Belgien hier treffen soll. Und eine Situation, in der es keine guten oder richtigen Antworten gibt. Das einzige, was es gibt, ist irgendeine Art von Deal. Belgien muss die Diskussion darüber mit der allergrößten Transparenz führen.
Einen Terroristen zu begnadigen, ist aus mehreren Perspektiven unerträglich, findet L'Avenir: zum einen aus Sicht der geplanten Opfer des vereitelten Anschlags. Aber auch aus der Sicht aller Opfer von Terrorismus weltweit. Andererseits stehen hier im Iran Menschenleben auf dem Spiel. Warum also nicht einem Instrument zustimmen, das zumindest wieder der Diplomatie den Weg öffnen würde? Warum sich nicht zumindest zusätzliche Verhandlungsoptionen geben? Es sind Tage wie diese, an denen man wirklich nicht in der Haut der Parlamentarier stecken möchte. Denn egal, wie sie sich entscheiden werden, sie werden dafür harte Kritik ernten, befürchtet L'Avenir.
Boris Schmidt