"Conner Rousseau lässt seinen Charme spielen – und greift gleichzeitig den Vlaams Belang an", titelt Gazet van Antwerpen zum Auftritt des Vooruit-Vorsitzenden am 1. Mai. "Lohnerhöhung von 0,4 Prozent steht wieder zur Diskussion – die PS spricht die Sprache der Gewerkschaften, Vooruit zieht nicht mit", vergleicht Het Laatste Nieuws die Sozialisten auf beiden Seiten der Sprachgrenze. "Magnette-Bouchez: Die Schlacht des 1. Mai", blickt Le Soir in den Süden des Landes. "Ein 1. Mai mit Wahlkampf-Akzenten", stellt La Libre Belgique fest.
Nach zwei Jahren Pandemie haben die Parteien diesen Sonntag, dem Tag der Arbeit, zurückgefunden zu den großen Versammlungen, resümiert L'Avenir. Slogans, Forderungen und Ankündigungen aller Art gehören an diesem symbolischen Tag traditionell dazu – und auch dieses Jahr hat da keine Ausnahme gebildet. Diese Woche haben wir gleich einen ganzen Katalog an Vorschlägen bekommen – Vorschläge, die alle leichter zu verkünden als tatsächlich umzusetzen sind. Ein wahres Festival der Ankündigungen, von einer zusätzlichen Besteuerung der Reichen über eine Abschöpfung der Übergewinne der Firmen bis hin zu einem Scheck über 25.000 Euro für die 18- bis 25-Jährigen.
Wenig überraschend stand gestern vor allem die Kaufkraft im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle überstürzten sich geradezu mit ihren Vorschlägen, um den Bürgern zu helfen. Wobei auch immer schön die anderen Parteien schlechtgemacht wurden. Dennoch ist es wirklich an der Zeit, mit dieser Effekthascherei aufzuhören. Die Bürger sehen ihr Budget wie Schnee in der Sonne schmelzen. Und die Zukunft droht, nur noch schwieriger zu werden, warnt L'Avenir.
Die Rechtsextremen im Fadenkreuz von Vooruit
Der 1. Mai ist kein exklusives Fest der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegungen mehr, hält Het Belang van Limburg fest. Eine ganze Reihe anderer Parteien haben mittlerweile ihre eigenen Spin-Offs: der Vlaams Belang, die MR oder auch Ecolo beispielsweise. Wird der 1. Mai also langsam so etwas wie Halloween oder Weihnachten? Feste, die irgendwie jeder feiert, ohne immer wirklich zu wissen, was da eigentlich gefeiert wird? Aber für die Parteien geht es natürlich auch darum, die 1. Mai-Partys der anderen zu stören, darum, auch etwas von der Aufmerksamkeit abzubekommen. Nicht umsonst hielt der Vlaams Belang seine Veranstaltung wie Vooruit in Sint-Niklaas ab oder zog die liberale MR in die rote Hochburg Herstal, unterstreicht Het Belang van Limburg.
Seit dem Sieg Macrons über Le Pen scheint es, als ob es bei Wahlen vor allem darum geht, dass die Rechtsextremen verlieren, schreibt Het Nieuwsblad. Auch der Vooruit-Vorsitzende Conner Rousseau hat den 1. Mai genutzt, um den Vlaams Belang anzugreifen. Aber damit wendet er eine Taktik eben genau dieser extremen Parteien an: Der Gegner wird negativ dargestellt, um die Menschen abzuschrecken. Dabei sollte man von einer Zentrumspartei wie Vooruit doch eigentlich stattdessen ein eigenes, positives Angebot an die Wähler erwarten, kritisiert Het Nieuwsblad.
Für Conner Rousseau scheint schon jetzt festzustehen, dass nach den Wahlen 2024 die N-VA entweder mit seiner Vooruit oder mit dem Vlaams Belang regieren wird, glaubt Gazet van Antwerpen. Vor diesem Hintergrund ist es weder neu noch unlogisch, dass der Vorsitzende der flämischen Sozialisten vor den Fallgruben der Rechtsextremen warnt. Sozialismus und die Werte des Vlaams Belang sind nun einmal zwei Dinge, die überhaupt nicht zusammengehen. Dass Rousseau dafür den 1. Mai nutzt, verrät allerdings auch, wie nervös seine Partei ist, so Gazet van Antwerpen.
Der Vivaldi steht eine Kraftprobe bevor
Le Soir blickt auf den Auftritt von Paul Magnette: Der PS-Vorsitzende hat dazu aufgerufen, das Lohnnormgesetz zu reformieren. Außerdem hat Magnette eine "Steuer für die Reichsten" gefordert. Diese beiden Vorschläge sollen bald auf dem Tisch der Föderalregierung landen. Spätestens im Juni, wenn PS-Vizepremier und Wirtschafts- und Arbeitsminister Pierre-Yves Dermagne den Koalitionspartnern "Lösungen" zur Wiederherstellung der Kaufkraft vorstellen werde, hieß es weiter. Das wird garantiert zu einer Kraftprobe innerhalb der Vivaldi führen, denn die Liberalen sehen die Zukunft noch nicht einmal leicht rosa, geschweige denn rot. Man wird auch sehen müssen, wie weit es die Sozialisten tatsächlich treiben werden.
Dennoch sollte man sich vor Augen halten, dass weder eine Art Solidaritätssteuer noch eine Überarbeitung des Lohnnormgesetzes zwangsläufig eine Revolution darstellen müssten. Vielleicht sind sie der Preis, den man für eine minimale soziale Regulierung zahlen muss. Denn ohne sie könnten die immer weiter zunehmenden existenziellen Probleme und Ängste der Menschen zu einer Radikalisierung sozialer Konflikte führen, wie wir sie von den Gelbwesten kennen, meint Le Soir.
Ein denkbar ungünstiger Eindruck
La Dernière Heure hebt schließlich noch eine wilde Streikaktion von Aktivisten der Brüsseler Abteilung der sozialistischen Gewerkschaft FGTB hervor: Die haben den 1. Mai genutzt, um auf angebliche Missstände in ihrer eigenen Organisation aufmerksam zu machen. Die Rede ist von Vetternwirtschaft, Einschüchterungen, Diffamierungen, Sexismus, illegalen und willkürlichen Kündigungen und diversen Verstößen gegen arbeitsrechtliche und andere Vereinbarungen.
Das wirft ein ausgesprochen schlechtes Licht auf die Glaubwürdigkeit der Brüsseler Sektion – ausgerechnet, wenn die FGTB mit dem Finger auf die Untätigkeit der Vivaldi-Regierung zeigt, was das Recht auf Arbeit angeht, stichelt La Dernière Heure.
Boris Schmidt