Viele Leitartikler stellen sich die Frage, ob die jetzt an den Tag gelegte Verhandlungsbereitschaft nicht doch ein Strohfeuer ist. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Johan Vande Lanotte kann man in jedem Fall keinen Vorwurf machen - eher im Gegenteil.
Vande Lanotte legt Kompromiss-Note vor ...
"Kühle Reaktion auf Vande Lanotte-Note", titelt heute La Libre Belgique. De Standaard versprüht mit seiner Schlagzeile eher Pessimismus: "Es gibt ein 'Non' und ein 'Neen' für Vande Lanotte". Het Belang van Limburg sieht auf seiner Titelseite das Problem schon bei den Frankophonen: "Der Vande Lanotte-Text ist den Wallonen zu flämisch".
Der königliche Vermittler Johan Vande Lanotte hat gestern seinen mit Spannung erwarteten Kompromissvorschlag präsentiert. Die sieben bislang an den Verhandlungen über eine neue Staatsreform beteiligten Parteien haben die Note als Gesprächsgrundlage akzeptiert. Die meisten machten dabei allerdings deutlich, dass wohl noch zahlreiche Veränderungen an dem Text vorgenommen werden müssen. Nach über zwei Monaten Stillstand ist man aber zumindest bereit, wieder zu verhandeln.
... und formuliert weitreichende Vorschläge
Einige Zeitungen haben die Note einsehen können, so unter anderem auch De Morgen. Grob zusammengefasst: Die Steuerautonomie der Teilstaaten soll deutlich verstärkt werden. Über diesen Weg soll auch eine Neufinanzierung von Brüssel erfolgen: Die Zahl derer, die in Brüssel arbeiten aber nicht dort wohnhaft sind, soll bei der Neuverteilung des Geldes in diesem Land berücksichtigt werden. Außerdem sollen weite Teile des Arbeitsmarktes und der Gesundheitspolitik sowie die Zuständigkeit für das Kindergeld und auch Teile des Gerichtswesens an die Teilstaaten übertragen werden.
Den Frankophonen geht das mitunter viel zu weit, einigen flämischen Parteien, allen voran der N-VA, geht es nicht weit genug, analysiert La Libre Belgique. In einem Punkt sind sich alle einig: Hier muss noch deutlich nachgebessert werden.
Gesprächsgrundlage oder Verzögerungsmanöver?
Es ist vielleicht kein Durchbruch, aber zumindest ein Fortschritt, meint dazu De Tijd in ihrem Leitartikel. Seit dem 3. September wurde nicht mehr verhandelt. Mit Engelsgeduld hat Johan Vande Lanotte die sieben Parteien jetzt dazu gebracht, zumindest wieder miteinander zu reden. Das allein ist eigentlich schon eine Meisterleistung.
Von Johan Vande Lanotte ist jetzt Pendeldiplomatie gefragt, notiert dazu Gazet van Antwerpen. Er muss jetzt zwischen Frankophonen und Flamen hin und her laufen, um mögliche Gegenvorschläge auf ihre Konsensfähigkeit hin abzuklopfen. Jetzt wird es darauf ankommen, dass vor allem die Frankophonen ihre Igelstellung aufgeben und endlich mit offenem Visier verhandeln.
De Tijd und Gazet van Antwerpen stellen sich aber beide die Frage, ob es sich bei der Vande Lanotte Mission nicht um eine reine Inszenierung handelt: Man will Zeit kaufen, man will dafür sorgen, dass, falls es wirklich Neuwahlen geben muss, die wenigstens im kommenden Jahr stattfinden, wenn die belgische EU-Ratspräsidentschaft vorbei ist.
Fakten, Fakten, Fakten
Einige Zeitungen betrachten die Vande Lanotte-Note dennoch als das, was sie ist: ein möglicher Lösungsansatz. So etwa die Brüsseler Tageszeitung Le Soir. Klar: Der Vorschlag von Johan Vande Lanotte löst auf beiden Seiten der Sprachgrenze nicht unbedingt tosende Beifallsstürme aus. Für Flamen wie Frankophone enthält der Text Tabubrüche. Doch weiß gerade ein Mann wie Johan Vande Lanotte, dass die sechste Staatsreform nur zu einem solchen Preis zu haben ist. Jeder muss bereit sein, auch noch so heilige Kühe zu schlachten. Wenn es auf der Grundlage der Vande Lanotte-Note keine Einigung gibt, dann ist wirklich fraglich, ob der belgische Kompromiss noch funktioniert.
Vande Lanotte hat eine solide Verhandlungsgrundlage geschaffen, meint auch Het Laatste Nieuws. Natürlich ist es noch ein weiter Weg bis zu einem Abkommen. Doch kann jetzt wenigstens so verhandelt werden, wie es sich gehört: sachlich und technisch fundiert. Vande Lanotte ermöglicht der Rue de la Loi ein Relegationsspiel. Ein zweites wird es nicht geben.
Schwarzer Peter im Nebel
La Libre Belgique bleibt betont realistisch: Eigentlich müsste man sich kneifen, um sicher zu sein, dass man nicht träumt. Vande Lanotte hat es geschafft, die Verhandlungen wieder anzustoßen. Jetzt steht ein Abkommen kurz bevor, bald haben wir eine neue, stabile Regierung und das Land ist für zehn Jahre befriedet. Aber Stopp! So weit ist es längst noch nicht. Vielleicht ist der Verhandlungszug wieder auf den Schienen. Doch ziehen die zwei Lokomotiven immer noch in entgegengesetzte Richtungen. Zwar ist träumen erlaubt, doch stehen wir mehr denn je im Nebel.
Het Belang van Limburg gibt den Verhandlungen indes kaum eine Chance: Eigentlich geht es nur noch darum, wer als erster die Tür zuschlägt. Jeder weiß allerdings: Die Partei, die Neuwahlen provoziert, wird in der Regel bestraft. Alle Beteiligten werden also jetzt alles dransetzen, um dem jeweils anderen den Schwarzen Peter zuzuschanzen.
Arbeitsgrundlage - für jetzt oder für später
Doch gleich wie es kommt: Vande Lanottes Arbeit war in jedem Fall nicht umsonst, schlussfolgert De Standaard. Entweder, es gelingt ihm, bei den Parteien so viel Verantwortungsbewusstsein zu schaffen, dass sie jetzt wirklich ein ehrbares und praktikables Abkommen erzielen, oder aber Vande Lanottes Arbeit legt die Grundlage für eine neue Gesprächsrunde nach möglichen Neuwahlen. Vande Lanotte hat sich, das muss man ihm lassen, fast schon todesmutig seiner Mammutaufgabe gestellt. Er hat dafür gesorgt, dass jetzt Formeln, Berechnungen, Zahlen und Szenarios vorliegen, die die Basis für eine echte Staatsreform bilden können. Gleich ob mit oder ohne Neuwahlen: Jetzt geht es nur noch um Feinjustierung.