"Pensionen – die so erwartete Reform", lautet die große Überschrift bei Le Soir. "Vorlage der befugten PS-Ministerin Lalieux – "Schon Rente mit zehn Jahren Laufbahn'", greift sich Het Laatste Nieuws einen Punkt aus diesem Vorstoß für die Reform des belgischen Rentensystems heraus. Die Wirtschaftszeitungen blicken auf einen anderen: "Frührente für alle nach 42 Jahren Arbeiten", schreiben quasi gleichlautend L'Echo und De Tijd.
Jeder kann nach 42 Jahren Laufbahn früher in Rente, ein Pensionsbonus von zwei Euro pro gearbeitetem Tag und eine Mindestrente nach zehn Jahren Arbeiten. Das ist das Eröffnungsangebot der föderalen Pensionsministerin Lalieux, fasst De Tijd in ihrem Leitartikel zusammen. Das ist ein Bruch mit den von der Regierung Michel angeleierten Trends – und das will Lalieux auch so. Ein zentraler Punkt für sie ist, Zitat, "Gerechtigkeit zurückzubringen". Außerdem hat sie nach eigenen Aussagen die Nase voll davon, dass Rentner nur als Kostenfaktor betrachtet werden. Mit beiden Punkten hat sie zweifelsohne Recht. Aber einen anderen Punkt ignorieren die Pläne der PS: die Bezahlbarkeit. Laut Lalieux sollen die Zusatzausgaben haushaltsneutral sein, wenn der Beschäftigungsgrad 80 Prozent der aktiven Bevölkerung beträgt. Diese Aussage ist aus gleich mehreren Gründen problematisch. Erstens ist nicht klar, wie so ein Beschäftigungsgrad erreicht werden soll. Und selbst falls das gelingen sollte, droht dem Wohlfahrtsstaat noch immer die Implosion durch schwere Defizite. Außerdem stimmt die Rechnung nicht, weil die Ausgaben für die Erhöhung der Mindestrenten nicht berücksichtigt sind, kritisiert De Tijd.
Auch die Schwesterzeitung L'Echo sieht einige Fragezeichen beziehungsweise Löcher in dem Vorschlag: Lalieux geht die Harmonisierung der verschiedenen Rentensysteme nicht an. Wir brauchen mehr Einheitlichkeit zwischen Selbstständigen, Angestellten und Beamten in dieser Hinsicht. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und notwendig, um die berufliche Mobilität zu fördern. Und um die immer gemischteren Laufbahnen zu berücksichtigen, so L'Echo.
Die Hoffnung hat einen ziemlichen Knacks bekommen
Die Hoffnung auf eine gründliche Rentenreform hat einen ziemlichen Knacks bekommen, findet Het Laatste Nieuws. Und geht hart mit PS-Pensionsministerin Karine Lalieux ins Gericht: Ein Jahr lang konnte sie fern der Scheinwerfer der Tagesaktualität an einem Plan basteln, um die Pensionen ehrlicher, einfacher und bezahlbar zu machen. Sie konnte, fernab des täglichen politischen Gegröles, nach einem Kompromiss mit den Koalitionspartnern suchen. Aber das hat sie nicht getan. Stattdessen hat sie nur ihren Vorschlag vorgelegt. Das wird direkt zu einer Kakofonie an Meinungen führen. Diese Regierung war angetreten, um Unterschiede zu überwinden, die Anti-Politik zu bekämpfen und die Herausforderungen anzugehen. Für eine Schockwelle sorgt Lalieux' Plan nicht. Sie feilt innerhalb der Linien des Regierungsabkommens, wo sie kann. Da kann man wirklich nur sagen: Der Berg kreißte und gebar eine Maus, giftet Het Laatste Nieuws.
Auch Le Soir verwirft die Vorstellung, dass es sich bei dem Vorschlag der PS-Föderalministerin um eine Revolution handeln könnte. Die Revolution ist unter der Regierung Michel passiert, als das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wurde. Damit wurde ein altes Tabu über Bord geworfen – und das stellen selbst die Sozialisten nicht mehr in Frage, egal, was sie vor der Wahl versprochen hatten. Neben diversen Fragen zu den konkreten Elementen des Lalieux-Vorstoßes stellt sich heute aber auch noch eine viel allgemeinere Frage: Wie ist es um die politische Reife innerhalb der Vivaldi-Koalition bestellt? Denn die Zeit drängt, um eine praktikable und finanzierbare Reform durchzuführen, in der sich die zahlreichen Parteien in der Regierung auch wiederfinden können, damit sie Bestand hat. Alles andere wäre ein Scheitern für alle. Egal, welche Partei in den nächsten Tagen am lautesten nörgeln wird, warnt Le Soir.
Mission: Vertrauen wiederherstellen
Der Versuch der Regierung Michel, das System zu reformieren, hat zu viel Misstrauen geführt, erinnert De Morgen. Unter den Sozialpartnern, innerhalb der Regierungskoalition und sicher nicht zuletzt bei den Bürgern. Die sind immer unruhiger geworden angesichts der Frage, was ihnen auf ihre alten Tage noch übrigbleiben wird. Die wichtigste Aufgabe für Lalieux besteht deswegen darin, das Vertrauen wiederherzustellen. Wird es Lalieux glücken, die sieben Parteien der Koalition unter einen Hut zu bringen? Denn nur, wenn sie langfristige Sicherheit gewährleisten kann, wird das Vertrauen der Bürger auch wirklich zurückkehren, mahnt De Morgen.
Mehr als genug Material für Spannungen
Andere Zeitungen fassen anlässlich der Pläne für die Rentenreform den Blick auf die Regierungskoalition weiter: Das politische Jahr beginnt so langsam, konstatiert Het Belang van Limburg. Und plötzlich liegen eben andere Dossiers als immer nur Corona auf dem Tisch. Das bedeutet, dass es nun um die echten Management-Fähigkeiten der Regierungen gehen wird. Bis jetzt konnten sie sich hinter den Kapriolen des Virus verstecken, aber damit ist es jetzt vorbei. Jetzt geht es um Probleme, die viel vorhersehbarer sind. Und damit werden wir auch besser beurteilen können, was unsere Politiker taugen, meint Het Belang van Limburg.
Die Liste mit sensiblen Dossiers für die Föderalregierung ist ellenlang, unterstreicht L'Avenir. Die Regierung muss weiterhin die Corona-Krise managen und ihre sozio-ökonomischen Folgen. Sie muss sich mit der Frage befassen, wie wir es aus der Krise herausschaffen und die Wirtschaft wieder auf die Beine bekommen sollen. Dann naht schon mit großen Schritten die dornige Akte Atomausstieg. Vorher stehen aber der Haushalt, die Investitionen und eben die Rentenreform auf der Tagesordnung. Ganz zu schweigen vom Arbeitsmarkt, dem Klima, der Reform des Strafgesetzbuches in puncto Sexualstrafrecht und der wichtigen Steuerreform. Mehr als genug Material für Spannungen und Streit innerhalb der Regierungskoalition, prophezeit L'Avenir.
Boris Schmidt