"Eine angekündigte Tragödie", so die große Überschrift bei Le Soir. "Die große Befürchtung ist wahr geworden – mindestens 72 Tote, zwölf amerikanische Marines gestorben, IS übernimmt Verantwortung für Doppelanschlag", zieht Het Nieuwsblad Bilanz nach den Anschlägen am Flughafen von Kabul. "USA wollen Mission fortsetzen", ergänzt das GrenzEcho.
Afghanistan ist gestern wie befürchtet in die Terror-Hölle zurückgefallen, kommentiert Le Soir. Das destabilisierte Land wird zum Opfer von Gruppen, die das Vakuum füllen wollen, das durch die Amerikaner hinterlassen worden ist. Beim Machtkampf zwischen IS, Al Kaida und den Taliban sind jetzt sowohl Amerikaner als auch Afghanen ins Fadenkreuz geraten. Wie sich die Situation weiter entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die geopolitischen Karten sind noch nicht vollständig neu verteilt worden. Und es ist unklar, wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppierungen auswirken werden, auch auf der globalen Bühne, schreibt Le Soir.
Es war befürchtet worden, es war davor gewarnt worden und schließlich ist es auch passiert, seufzt Het Belang van Limburg. Aus der Warteschlange für die Hoffnung ist gestern eine Warteschlange in den Tod geworden. Afghanistan stand ohnehin schon am Abgrund. Und jetzt sind noch diese Gräueltaten dazu gekommen. Offenbar sind 40 Jahre Krieg nicht genug gewesen, um endlich etwas Ruhe zu verdienen.
"Ein kollektives Versagen"
Das GrenzEcho holt zum Rundumschlag aus: Kabul – diese fünf Buchstaben werden ähnlich wie der Name Saigon in das Gedächtnis der westlichen Welt eingeprägt bleiben. Seit dem Vietnamkrieg haben die Supermacht USA und ihre Verbündeten keine vergleichbare Blamage mehr hinnehmen müssen. Dennoch sollten Politiker aus europäischen Nato-Mitgliedsstaaten, wie der belgische Premier Alexander de Croo, sich mit Kritik an den Vereinigten Staaten zurückhalten. Immerhin hat die Mission am Hindukusch einmal mehr den Beweis erbracht, dass die Bündnispartner ohne die USA nicht im Stande sind, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es wird allerhöchste Zeit, dass Europa sich auf die eigenen Beine stellt, sich von den USA emanzipiert und ehrlich mit seinen Bürgern kommuniziert. Dann könnte man auch wieder glaubwürdig von Werten sprechen, die von den Taliban in Afghanistan mit Füßen getreten werden, giftet das GrenzEcho.
Ja, die Europäer sind vom US-Präsidenten vor vollendete Tatsachen gestellt worden, räumt La Libre Belgique ein. Aber auch sie tragen Verantwortung: Sie haben sich unter dem amerikanischen Schutzschirm versteckt, sie haben es nicht geschafft, sich zu verständigen, um eine gemeinsame europäische Verteidigungsstreitmacht auf die Beine zu stellen. Sie haben keine andere Wahl als im Konfliktfall den großen Bruder zu Hilfe zu rufen oder seinen Entscheidungen zu folgen. Ein kollektives Versagen.
L'Echo schlägt in dieselbe Kerbe: Afghanistan ist nicht nur ein Debakel für Biden, sondern genauso für seine Alliierten, besonders die Europäer. Europa hat in diesem Konflikt nie wirklich eine Rolle gespielt, weder vor noch nach dem Fall Kabuls. Militärisch und strategisch gesprochen existiert Europa einfach nicht. Wird die Krise von Kabul zumindest einen europäischen Ehrgeiz wecken, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Es ist zumindest zu hoffen, dass Europa Initiative, Energie, Intelligenz und Wohlwollen unter Beweis stellen wird bei der zukünftigen Unterstützung des afghanischen Volks, wünscht sich L'Echo.
Das Chaos droht nur noch größer zu werden
De Tijd blickt ebenfalls in die Zukunft: Wenn die ganze Operation beendet sein wird, werden die Probleme noch größer werden. Was wird mit den Ausländern und Afghanen mit doppelter Staatsangehörigkeit sein, die das Land dann noch verlassen wollen? Die Taliban haben zwar versprochen, Ausländer auch nach dem 31. August ausreisen zu lassen. Aber werden sie sich daran halten? Das Chaos in Afghanistan droht nur noch größer zu werden. Ein Auftrag für die Vereinigten Staaten und Europa lautet deshalb, weiter Einfluss auf die Taliban und die Politik vor Ort auszuüben. Das Problem: Damit ist noch kaum begonnen worden. Und das macht die Niederlage in Afghanistan komplett, meint De Tijd.
L'Avenir greift die belgische Entscheidung auf, die Evakuierungsmission frühzeitig zu beenden. Die Belgier waren nicht die einzigen, die die Anschlagsgefahr sehr ernst genommen haben. Aber sie haben sich besonders beeilt. Nicht etwa, weil sie besser informiert gewesen wären als andere Länder. Sondern aus einem Grund, der weder in den Pressekonferenzen noch vor den Kammerausschüssen explizit ausgesprochen worden ist. Die Föderalregierung wollte um jeden Preis eine Katastrophe wie die Ermordung der zehn belgischen Paras 1994 in Ruanda verhindern. Die aktuelle Lage in Kabul ist nämlich sehr vergleichbar mit der damals. Es ist ein Vulkan, der nur darauf wartet, zu explodieren. Ein einziger Funke reicht, unterstreicht L'Avenir.
"Wir schaffen das" definitiv vorbei
Het Laatste Nieuws ärgert sich über die feindseligen Reaktionen mancher Belgier den afghanischen Evakuierten gegenüber. Da wird unter dem Schutz der Anonymität von Facebook und Co. von Pantoffelhelden über kleine afghanische Mädchen hergezogen, die über das Rollfeld von Melsbroek hüpfen, weil sie froh sind, der Hölle von Kabul entkommen zu sein. Flandern mag ja oft warmherzig sein, manchmal ist es aber einfach armselig.
Gazet van Antwerpen fragt sich, wie es jetzt weitergehen soll: Wie jetzt noch weitere Menschen aus Afghanistan herausholen? Was tun mit den schon Evakuierten, die nach Afghanistan gereist waren, obwohl sie das als hier anerkannte Flüchtlinge nicht hätten tun dürfen? Streng genommen müssten sie ihren Flüchtlingsstatus verlieren und zu Illegalen werden. Viel allgemeiner stellt sich auch die Frage, wie mögliche Flüchtlingsströme kanalisiert werden sollen. Premierminister De Croo hat gestern eine Unterbringung der Flüchtlinge in den Nachbarländern Afghanistans befürwortet. Auch Angela Merkel hat nichts über eine Aufnahme in Deutschland oder Europa gesagt. Die Seite des "Wir schaffen das" ist definitiv umgeblättert, stellt Gazet van Antwerpen fest.
Boris Schmidt