"Regierung: Einigung zum Tarifabschluss – Kompromiss mit Prämie bis 500 Euro", so ein Aufmacher heute beim GrenzEcho. "Überberufliches Abkommen: Eine 'Corona'-Prämie von höchstens 500 Euro", schreibt L'Avenir. "Die Minimal-Einigung über die Löhne offenbart die Zerbrechlichkeit der Vivaldi-Koalition", titelt La Libre Belgique.
Was sich wohl jeder zuerst gefragt hat, als bekannt wurde, dass es eine Einigung über die Löhne gab: Bekomme ich die Prämie von ungefähr 500 Euro netto? Und warum nicht ich?, kommentiert Het Nieuwsblad. Ideologisch betrachtet will es die Vereinbarung allen recht machen: Die liberalen Parteien sind zufrieden, weil die Lohnkosten nicht stärker steigen, als es die Lohnnorm vorsieht, was sie in puncto Wettbewerbsfähigkeit beruhigt. Grüne und Sozialisten sind zufrieden, weil die arbeitende Bevölkerung doch etwas zusätzlich bekommt – in den Betrieben, denen es in der Krise gut ergangen ist.
Alle zufrieden also? Das bleibt abzuwarten. Erstens gilt die Einigung nicht für alle. Und zweitens gibt es noch diverse Details, die die Sozialpartner ausarbeiten müssen. Solidarisch ist die Idee dieses Bonus sicher nicht. Wer während der Krise hart gearbeitet hat, hat das nicht automatisch in Bereichen getan, die von der Krise profitieren konnten. Und wer letztlich wirklich eine Prämie bekommen wird, könnte maßgeblich davon abhängen, wie stark die Gewerkschaften in den jeweiligen Sektoren und Betrieben sind und weniger davon, ob gute oder weniger gute Arbeit geleistet worden ist.
Politisch mag der Bonus also ein schöner Kompromiss sein, aber in der Praxis kann er sich als Gift herausstellen. Es wird an den Gewerkschaften und Arbeitgebern sein, zu verhindern, dass die Menschen in einigen Wochen schwer enttäuscht sein werden von der Politik und von ihren eigenen Firmen, warnt Het Nieuwsblad.
Für Le Soir ist es eine "Vermittlungslösung", die nicht viel ändert in den Beziehungen zwischen den Sozialpartnern: Der Graben zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften bleibt groß. Die Bosse und die Liberalen sind glücklich, die Gewerkschaften wütend und die Sozialisten stehen innerhalb der Regierung gerade angesichts ihrer Ressorts sehr, sehr schlecht da.
Die soziale Konzertierung hat also eine Runde verloren. Sie kann es sich kaum erlauben, die folgenden Runden auch zu verlieren. Ansonsten gerät das System in Gefahr, das historisch dafür gesorgt hat, dass sich die belgische Gesellschaft harmonisch entwickelt und in einem Gleichgewicht zwischen denen, die arbeiten, und denen, die anstellen. Ein System, das auf Dialog und gegenseitigem Zuhören beruht, so Le Soir.
Vivaldi hat den Teller voll
La Libre Belgique hebt vor allem die Spannungen innerhalb der Vivaldi-Regierungskoalition hervor. Das verheißt wenig Gutes für die zukünftigen Baustellen der Föderalregierung: Pensionsreform, Steuerreform, Arbeitsmarktreform, mehr öffentliche Investitionen, Energie- und Klimawende, Gesundung der Staatsfinanzen – Vivaldi hat den Teller voll.
Jetzt stellt man aber fest, dass schon die relative magere Vorspeise des Rahmentarifabkommens für Verstopfung gesorgt hat. Damit bleiben der Regierung zwei Möglichkeiten: Entweder sie sieht ein, dass sie sich zu viel aufs Menü gepackt hat. Oder sie unterzieht sich einer Aussöhnungsdiät. Angesichts des Zustands unserer Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen ist klar, welche Wahl die Regierung treffen sollte, meint La Libre Belgique.
Das ist noch lange keine "Ende-gut-alles-gut"-Geschichte, warnt auch Gazet van Antwerpen. Die Gewerkschaften sind unzufrieden, Details müssen ohnehin noch ausgearbeitet werden, was noch sehr schwierig werden wird. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass das Dossier am Ende doch wieder auf dem Tisch des Kernkabinetts landen wird. Und über die Erhöhung der Mindestlöhne ist noch nicht wirklich etwas beschlossen worden. Außer, dass die Sozialisten die Zusage bekommen haben, dass diese in den nächsten Jahren steigen werden.
Alles weist darauf hin, dass es ein besonders heißer sozialer Frühling werden wird und dass trotz des weißen Rauchs von vor zwei Nächten noch nichts definitiv ist. Premier De Croo sollte sich also besser schon mal vorbereiten, die Chance ist groß, dass er da noch mal 'ran muss, glaubt Gazet van Antwerpen.
Reine Symbolpolitik?
Das zweite große Thema in den Leitartikeln ist ein Vorstoß von US-Präsident Joe-Biden. Der will, dass Patente auf Coronavirus-Impfstoffe befristet freigegeben werden, um deren weltweite Verteilung zu beschleunigen.
Die Herstellung eines Vakzins ist ungleich schwieriger als die einer Maske. Dabei ist die Politik schon bei dieser ersten Übung kläglich gescheitert, poltert das GrenzEcho. Außerdem erwarten alle sichere Vakzine, die hygienisch produziert wurden: mit erprobten Komponenten. Und es muss schnell gehen: keine Zeit für Gerichtsverfahren, neuerliches staatliches Versagen und schon gar nicht für kommunistisch inspirierte Verstaatlichung. Es geht wieder einmal um reine Symbolpolitik. Man will vom wirklichen Problem, nämlich unserem westlichen Egoismus ablenken, so das GrenzEcho.
Was ist letztlich wichtiger?
Die Pharmabetriebe fürchten, dass eine Umsetzung des Vorstoßes Bidens das Vertrauen in Patente derartig untergraben wird, dass dadurch die Entwicklung neuer Produkte gebremst werden könnte, analysiert De Standaard. Aber andererseits ist es vielleicht gar nicht so schlecht, dass mal über die Vor- und Nachteile des heutigen Systems diskutiert wird.
Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Entwicklung neuer Mittel vor allem nach den Bedürfnissen des finanzkräftigsten Teils der Weltbevölkerung richtet. Wenn die Coronakrise zu einem gerechteren System führt, um die gesundheitlichen Nöte der ganzen Welt zu mildern, dann hätte die Pandemie zumindest eine positive Folge gehabt, meint De Standaard.
Was der Pharmaindustrie bei dieser Diskussion vor allem den Angstschweiß auf die Stirn treibt, ist, dass ihr ganzes Patentsystem infrage gestellt werden könnte, schreibt Het Belang van Limburg. Damit würde ihr komplettes Gewinnsystem ins Wanken geraten. Und das würde eine potenziell schwere Hypothek für zukünftige Forschung darstellen.
Was die Konzerne allerdings unter den Tisch fallen lassen, ist, dass es sich bei einer Aufhebung der Patente auf Corona-Impfstoffe um eine zeitlich begrenzte Maßnahme handeln würde und dass die Vakzinforschung zu einem großen Teil durch uns, die Steuerzahler, finanziert worden ist. Welches Risiko sind die Pharmabetriebe also tatsächlich eingegangen? Und was ist letztlich wichtiger? Unser kollektives Recht auf Sicherheit oder die kommerziellen Interessen einer Handvoll Anteilseigner?, fragt Het Belang van Limburg.
Boris Schmidt