"Nationaler Streik: Blockade auf allen Ebenen", macht Le Soir zum heutigen landesweiten Aktionstag der christlichen und sozialistischen Gewerkschaften auf. "Die Angestellten haben in fünf Jahren 40 Milliarden verloren", titelt La Dernière Heure. "Nationaler Home-Office-Streiktag", so die Überschrift auf Seite eins von Gazet van Antwerpen.
Wie legt man ein schon lahmgelegtes Land lahm?, fragt sich Le Soir in seinem Leitartikel. Viele Menschen haben die Nase voll davon, nicht mehr oder nur zeitweise arbeiten zu können. Wie kann man diese Menschen dazu aufrufen, eine soziale und solidarische Pause einzulegen? Man wird sehen müssen, ob und wie ein Streik unter Lockdownbedingungen Politik und Arbeitgeber unter Druck setzen kann. Dabei mangelt es sicher nicht an Gründen für Unzufriedenheit: Die Verarmung hat gerade in den letzten Monaten deutlich zugenommen, besonders bei den am stärksten von der Pandemie betroffenen Bevölkerungsgruppen und Sektoren.
Und manche Firmenbosse nehmen es nicht so genau mit den sanitären Schutzmaßregeln oder der verpflichtenden Telearbeit. Die Frage, ob dieser Streik der beste Weg ist, ist berechtigt. Aber die grundlegende Botschaft bleibt richtig: Soziale Konzertierung ist unverzichtbar für eine ausgewogene und wohlhabende Gesellschaft. Gerade in Zeiten, in denen Solidarität, Dialog und Austausch die Leitlinien sein müssen, um einen guten Ausgang aus der Pandemie zu finden mit ihren menschlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verheerungen. Was wir jetzt brauchen, ist kollektive Intelligenz für die Nach-Corona-Zeit, keine sozialen Spaltungen, warnt Le Soir.
Ja zu höheren Dividenden, Nein zu höheren Löhnen?
Der Streik sorgt noch mehr als sonst für böses Blut, stellt Gazet van Antwerpen fest. Die Arbeitgeber sind entrüstet über so viel Leichtsinn in so einer Krise. Andererseits haben sie kein Problem damit, dass börsennotierte belgische Unternehmen ihren Aktionären letztes Jahr 19 Prozent höhere Dividenden ausgezahlt haben. Irgendwo Lohnsteigerungen von mehr als 0,4 Prozent zuzulassen, davon wollen sie trotzdem nichts hören.
Die Einkünfte der Unternehmen sind in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Gleichzeitig haben sie die Preise für ihre Produkte unverhältnismäßig stark angehoben, mehr als es die steigenden Lohnkosten erfordert hätten. Wenn die Firmen also über schlechte Wettbewerbsbedingungen klagen, sollten sie sich auch an die eigene Nase fassen. Und wenn Betriebe eine höhere Produktivität wollen, dann müssen sie auch produktivere Arbeitnehmer anziehen. Zum Beispiel über höhere Löhne. Das alles nur um zu sagen, dass die Gewerkschaften nicht per se unredlich und verkrampft sind, so Gazet van Antwerpen.
So nötig wie Zahnschmerzen
Die Gründe für den Streik sind nicht ganz aus der Luft gegriffen, schreibt auch Het Nieuwsblad. Ja, vielen Betrieben steht das Wasser wegen der Krise bis zum Hals. Aber manche Sektoren haben gerade wegen Corona einen ziemlichen Schub bekommen. Deswegen ist es nicht unlogisch, wenn Arbeitnehmer, die sich in schwierigen Zeiten abgerackert haben, auch ein Stück vom Kuchen wollen. Und die hohen Dividenden stützen auch nicht gerade die Behauptung der Unternehmen, dass es keinen Spielraum für Lohnerhöhungen gibt. Dennoch besteht auch die Gefahr, dass die Gewerkschaften bei den Menschen auf Unverständnis stoßen, dass sie die ohnehin bröckelnde Zustimmung noch weiter untergraben.
Letztlich wird es an der Regierung sein, eine Lösung zu finden – und damit Partei zu ergreifen. Noch versucht Premier De Croo, den Ball flachzuhalten. Er weiß, dass die Positionen innerhalb seiner Vivaldi-Koalition gegensätzlich sind. Das gilt nicht nur für die Lohnmarge jetzt, sondern auch für die anstehenden Dossiers der Reform der Pensionen und des Arbeitsmarkts. Aber wenn De Croo jetzt nicht mit Lösungen kommt, dann steht uns noch eine Regierungsperiode voller Streit und ohne fundamentale Reformen bevor. Und das hat unser Land so nötig wie Zahnschmerzen, meint Het Nieuwsblad.
Das x-te Eingeständnis des Scheiterns
Dieser Streik ist das x-te Eingeständnis des Scheiterns der sozialen Konzertierung, wettert La Libre Belgique. Und das ausgerechnet in einem Augenblick, in dem Dialog wichtiger denn je ist. Sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmervertreter scheinen unfähig, ihre karikaturenhaften Positionen aufzugeben. Seit Monaten, um nicht zu sagen seit Jahren reden sie aneinander vorbei bei diesem so wichtigen Thema der Entwicklung der Löhne für die nächsten beiden Jahre. Dabei wäre die interprofessionelle Vereinbarung für den Privatsektor doch so wichtig.
In dieser nie dagewesenen und schmerzlichen Krise ist es absolut unverständlich, dass es unmöglich ist, einen echten Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu führen. Dabei ist doch offensichtlich, dass die Krise je nach Sektor und Größe der Unternehmen sehr unterschiedliche Auswirkungen hat. Warum sich also vonseiten der Arbeitgeber auf ein Wettbewerbsgesetz von 1996 versteifen? Das hat zwar durchaus noch seine Berechtigung. Aber objektiv betrachtet verzerrt es die Lohnverhandlungen in dieser ohnehin schon hochpolarisierten Situation, kritisiert La Libre Belgique.
Boris Schmidt