"Astrazeneca auch für Senioren - 'Impfkampagne kann beschleunigt werden", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Beschleunigung der Impfung fällt ins Wasser - Regierung hält an alter, langsamerer Strategie für Pfizer-Dosen fest, schon wieder 13.900 weniger Astrazeneca-Vakzine geliefert", so Het Nieuwsblad. "Impfstrategie - auf einen echten 'Reset' muss noch immer gewartet werden", titelt L'Avenir.
Immerhin haben die verschiedenen Ebenen des Landes stillschweigend anerkannt, dass die Lage alles andere als normal ist, kommentiert Le Soir das gestrige Treffen der Gesundheitsminister zur Impfstrategie; und, dass das Ganze anders angepackt werden muss, wenn wir auch nur geringfügige Lockerungen wollen. Also, zusammengefasst: Der Impfstoff von Astrazeneca kann jetzt auch an Menschen verabreicht werden, die älter als 55 Jahre sind. Das wird die Arbeit der Impfzentren erleichtern, weil sie ihre Impfstoff-Entscheidung nicht mehr vom Alter abhängig machen müssen.
Aber wird das reichen, um das Steuer herumzureißen? Was ist mit den teils leeren, teils überlasteten Impfzentren? Was ist mit der Festlegung der Risikogruppen? Was ist mit dem anfangs festgelegten Impfkalender? Die Pannen, die reihenweise die Impfkampagne plagen, sollten uns vor allem Demut lehren. Dazu müssen wir nur nach Großbritannien blicken in Sachen Impfung. Da hilft es auch wenig, dass die OECD das belgische Gesundheitssystem zu den besten der Welt zählt. Denn hier zeigt auch die Regionalisierung der Impfung die Grenzen des Systems auf, beklagt Le Soir.
Die belgische Impfstrategie: ein Versagen
Astrazeneca für alle, der zeitliche Abstand zwischen den Pfizer-Dosen bleibt der gleiche - das soll also eine "Beschleunigung" sein, gar ein "Gamechanger", eine grundlegende Veränderung?, frotzelt Het Nieuwsblad. Zwei Wochen sollen so bei der Impfkampagne gewonnen werden, hieß es gestern triumphierend. Viel ist das nicht. Außerdem ist es auch nicht wirklich wahr. Wir bekommen zwei Wochen zurück, die wir vorher durch Verzögerungen verloren haben. Sprich: Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben.
Von einem "Gamechanger" hätte man vielleicht sprechen können, wenn die Frist zwischen der ersten und zweiten Pfizer-Dosis verlängert worden wäre, wie es immer mehr internationale Studien empfehlen. In einem Kampf, in dem jeder Tag zählt, weil die Corona-Varianten vorrücken, scheint eine Verlängerung die Waffe der Wahl zu sein. Dass sie nicht eingesetzt wird, werden die Menschen nicht verstehen, genauso wenig wie den Mangel an Mut und Kühnheit bei den politisch Verantwortlichen, warnt Het Nieuwsblad.
Selbst wenn man nuanciert analysiert, lässt die aktuelle Lage nur einen Schluss zu, meint La Libre Belgique: Die belgische Impfstrategie ist bisher extrem vorsichtig und vor allem vage, stockend und ineffizient. In einem Wort zusammengefasst: ein Versagen. Angesichts der Tatsache, dass die Impfstoffe seit Ende letzten Jahres angekündigt waren, zeugt das von einem grausamen Mangel an vorausschauender Planung der Verantwortlichen in Belgien.
Während sich die unantastbaren Experten weiter gegen Änderungen wehren, hat es gestern vonseiten der Gesundheitsminister zumindest eine leichte Evolution gegeben. Währenddessen setzen sich aber die Pannen fort. Was es bräuchte, wäre eine komplette Überarbeitung der Impfstrategie. Ja, Vorsicht ist wichtig, Geduld auch. Aber heute ist es vor allem Dringlichkeit, die an den Tag gelegt werden sollte, fordert La Libre Belgique.
Herkules und die Coronavirus-Hydra
La Dernière Heure blickt voraus auf den morgigen Konzertierungsausschuss. Wegen der wieder steigenden Corona-Zahlen hat die Regierung letzten Freitag beschlossen, alle weiteren Lockerungen auf Eis zu legen. Die Chancen sind gering, dass es morgen zu einem deutlichen Kurswechsel kommen wird. Wann können wir dann mit Lockerungen rechnen? Manche reden schon davon, dass der Horeca-Sektor bis zum Sommer geschlossen bleiben muss.
Das Coronavirus hat schon etwas Teuflisches an sich. Es erinnert an fiktionale Monster wie in "Alien" oder "Terminator", die immer wieder auftauchen, wenn man sie schon besiegt glaubte. Man könnte das Virus auch mit der Hydra von Lerna vergleichen, diesem Monster, dem immer wieder Köpfe nachwuchsen, wenn man einen abgeschlagen hatte. Aber Optimisten werden sich daran erinnern, dass es Herkules letzten Endes doch gelungen ist, die Hydra zu besiegen, so La Dernière Heure.
Die Coronakrise beschleunigt die Erosion der EU
Das GrenzEcho schließlich stellt fest, dass die EU in der Krise immer weiter auseinanderfällt. Und die Tiefschläge kommen nicht etwa von außen, sondern von den eigenen Mitgliedsstaaten. Und es sind nicht nur die für ihre Widerborstigkeit bekannten Visegrád-Staaten, die sich ihre Freiheiten herausnehmen und die gemeinsame Impfstoffbesorgung missachten, indem sie sich in Russland und China versorgen.
Auch gestandene EU-Mitglieder der ersten Stunde wie Belgien und Deutschland strapazieren die gemeinsam festgelegten Regeln der EU. Belgien schränkte die Reisefreiheit ein, während anderswo Grenzkontrollen zwischen Schengen-Nachbarn ein ums andere Mal verlängert wurden. Wenn Gefahr von außen droht, hat man in der Regel Tendenz, enger zusammenzurücken. Bei der EU geschieht in der Not das genaue Gegenteil. Die Erosion der größten politischen Errungenschaften der letzten hundert Jahre hat sich in der Coronakrise stärker beschleunigt als das Abschmelzen der Polkappen in der Klimakrise, stellt das GrenzEcho fest.
Boris Schmidt