Die politische Krise in der Brüsseler Rue de la Loi steht naturgemäß weiter im Mittelpunkt der Berichte und Kommentare in der Tagespresse. Nach den sehr emotionalen Reaktionen von gestern scheint die Bereitschaft zur Selbstkritik heute bei Flamen und Frankophonen größer zu sein.
Gleichzeitig geht nach wie vor das Gespenst vorgezogener Neuwahlen um. Und schließlich kursiert offensichtlich ein Gerücht, wonach im Palast eine kleine Revolution bevorsteht.
Kluft!
"Offener Krieg" titeln heute fast gleichlautend De Morgen und Het Nieuwsblad. "De Wever hat genug", meinen auf der einen Seite Gazet van Antwerpen und Het Belang van Limburg, Le Soir stellt demgegenüber auf seiner Titelseite fest: "Die Frankophonen sagen nein, viermal nein".
La Libre Belgique bringt die Kluft zwischen Flamen und Frankophonen mit einer geteilten Titelseite auf den Punkt: Die Frankophonen sagen "Inacceptable" (Unannehmbar) - dreht man die Zeitung um, dann werden die Flamen mit "Aanvaardbaar" (Akzeptabel) zitiert.
Nach dem Nein der Frankophonen auf den Kompromissvorschlag von Bart De Wever steckt das Land mehr denn je in einer politischen Sackgasse. Jetzt hat der König die undankbare Aufgabe, einen Ausweg zu suchen. "Wen zaubert Albert II. jetzt aus dem Hut", fragt sich unter anderem das Grenz-Echo. Kein Kandidat zwingt sich für eine Vermittlermission auf. In La Libre Belgique drückt es ein Politologe wie folgt aus: "Wir stehen vor einem Friedhof der zwischenmenschlichen Beziehungen."
Neuwahlen?
Diesmal ist der Bruch vollzogen, konstatiert auch Gazet van Antwerpen. In den letzten Wochen hat es häufiger mal Game Over geheißen, der Gesprächsfaden konnte dann aber doch wieder aufgenommen werden. Jetzt ist Schluss - oder, um mit De Wever zu sprechen: Fabula acta est. Wenn die Frankophonen nicht noch in letzter Sekunde ein 180-Grad-Wende hinlegen, dann gibt es nur eins: Neuwahlen.
Auch für De Standaard scheint einiges auf einen neuen Urnengang hinzuweisen. Für Bart De Wever jedenfalls gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die Frankophonen akzeptieren seine Note als Gesprächsgrundlage, oder eben: Es wird neu gewählt. Kommentierend fügt das Blatt hinzu: Die De Wever-Note war bestimmt nicht perfekt. Wenn die Frankophonen sie aber mit einem Handstreich vom Tisch fegen, dann ist das eine Kriegserklärung. Sie müssen sich entscheiden. Entweder sie sind endlich bereit, das Land neu aufzustellen, oder sie spielen weiter ihre Spielchen und bringen das Land damit an den Abgrund. Neuwahlen sind keine Alternative, sorgen nur für eine weitere Radikalisierung.
Nachvollziehbar - und doch falsch
Auch De Morgen bringt bis zu einem gewissen Maß Verständnis für die ablehnende Haltung der Frankophonen auf. Gewisse Aspekte der De Wever-Note sind für sie aus nachvollziehbaren Gründen problematisch. Doch indem die Frankophonen die Note quasi postwendend abgeschossen haben, haben sie De Wever auf der flämischen Bühne nur recht gegeben und ihn damit größer gemacht.
Die Frankophonen hätten sich ein Beispiel an der flämischen SP.A nehmen sollen, meint Het Laatste Nieuws. Die flämischen Sozialisten haben die De Wever-Note gründlich studiert und dann eine ganz Reihe von Fragen formuliert. Das ist wenigstens konstruktiv, jedenfalls besser, als den Vorschlag vor den Kameras zu zerreißen.
Auf der Couch
Für Het Belang van Limburg hat die Reaktion der Frankophonen fast schon psychologische Gründe. Es stimmt: Der De Wever-Vorschlag kann zu einer Verarmung von Brüssel und der Wallonie führen. In einer ersten Phase soll das noch durch Solidaritätsmechanismen ausgeglichen werden, die dann aber auslaufen sollen. Wenn die Frankophonen damit ein Problem haben, dann, weil sie offensichtlich davon ausgehen, dass sich ihre Situation in absehbarer Zeit nicht verbessern wird. Fazit: Die Frankophonen sind zu pessimistisch, glauben nicht an die eigenen Erfolgschancen.
Einsichten
Auf frankophoner Seite hat derweil offensichtlich die Stunde der Selbstkritik geschlagen. Warum, so fragt sich etwa L'Avenir, warum haben die frankophonen Parteien sich derartig beeilt, den De Wever-Vorschlag abzuschießen? Die üblichen Verdächtigen à la Maingain oder Happart hätte man getrost erst mal poltern lassen können, währenddessen hätte man zumindest eine Nacht drüber schlafen sollen.
Auch La Dernière Heure bescheinigt den Frankophonen eine emotionale, ja leidenschaftliche Reaktion. Sie haben jedenfalls gut dran getan, sich wieder zu beruhigen. Doch jetzt müssen die Frankophonen sich auch neu aufstellen. Erstens: An einer solchen Unternehmung wie dieser Staatsreform müssen alle demokratischen Parteien beteiligt werden, also - zwischen den Zeilen - auch die MR. Und zweitens: Die Politik der kleinen Schritte ist an ihre Grenzen gestoßen.
Was wollen die Frankophonen?
La Libre Belgique sieht das genauso. Bart De Wever hat mit seinem Kompromissvorschlag die Karten auf den Tisch gelegt. Wäre es nicht an der Zeit, dass auch die Frankophonen jetzt geschlossen ihre Vision des Belgiens von morgen zu Papier bringen? Diese beiden Konzepte könnte man dann gegenüberstellen. Und dann müsste es auch möglich sein, einen Kompromiss, eine Schnittmenge zu finden.
Für Le Soir ist demgegenüber eigentlich schon klar, was die Frankophonen wollen. Erstens: Ein in Beton gegossenes Statut für Brüssel. Und zweitens: Ein Finanzierungsgesetz, das weder dem Föderalstaat noch der Wallonie oder Brüssel den Hals zuschnürt. Das sind die Minimalforderungen der Frankophonen, da hilft der N-VA auch keine Brechstange.
Externe Schlichtung
Bei all dem stellen sich De Tijd und De Standaard inzwischen eine Frage, die zunächst abstrus anmuten mag: Wäre es nicht an der Zeit, dass ein Außenstehender, vielleicht ein UN-Diplomat, zwischen beiden Seiten vermittelt?
Palastgeflüster
Het Laatste Nieuws schließlich ist ein spektakuläres Gerücht zu Ohren gekommen. Anscheinend gab es den Plan, dass König Albert II. zum Ende der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zugunsten seines Sohnes Philipp abdankt. Die Information wurde aber bislang nirgendwo bestätigt. Doch wenn überhaupt, dann steht ein solches Szenario derzeit nicht zur Debatte: Solange die Krise andauert, ist König Albert II. in seinem Palast ohnehin gefangen.
Bild: belga