"Wir brauchen Verschärfungen oder alles gerät außer Kontrolle", titelt De Morgen. Das ist ein Zitat des MR-Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez, der also härtere Maßnahmen fordert, um die Coronazahlen wieder in den Griff zu bekommen. La Libre Belgique hat auch diesen Weg vor Augen: "Warum wir geradewegs in Richtung einer neuen Verschärfung unterwegs sind – vielleicht sogar in Richtung neuer Ausgangsbeschränkungen". La Dernière Heure nennt das Kind beim Namen: "Am Freitag droht uns ein Lockdown".
Krisenstimmung auch heute wieder in den Zeitungen. Die Corona-Parameter sind ausnahmslos im roten Bereich. De Standaard bringt es auf den Punkt: "Ein neuer Lockdown ist eigentlich keine Option, bis es dann doch soweit ist".
Eine Schneise der Verwüstung
Alarmierte Schlagzeile auch auf Seite eins von Het Laatste Nieuws: "Die Kontaktpersonennachverfolgung bricht zusammen". Das ist bislang nur eine Warnung von Experten. Das Problem ist die neue Teststrategie, die heute in Kraft tritt. Grob zusammengefasst: "Keine Symptome, kein Test". "So könne aber das Tracing nicht funktionieren", warnen Fachleute.
Besonders angespannt ist die Lage derzeit in den Alten- und Pflegheimen. In Flandern wurden innerhalb von 24 Stunden fast 1.200 Corona-Fälle registriert. Betroffen sind sowohl die Bewohner als auch das Personal. "3.100 Personalmitglieder sitzen schon zu Hause", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. Das Fazit von Gazet van Antwerpen: "Die Alten- und Pflegeheime brechen im Eiltempo zusammen". Diese Einschätzung gilt wohlgemerkt im vorliegenden Fall für Flandern.
Das Virus hinterlässt wieder eine Schneise der Verwüstung, meint resigniert La Dernière Heure. Das Virus tötet wieder. Unser Gesundheitssystem stößt wieder an seine Grenzen. Über unsere kollektiven und politischen Verfehlungen könnte man Bücher schreiben. Kurz und knapp: Wir bezahlen jetzt für unsere Nachlässigkeit, unsere Untätigkeit, unsere Unfähigkeit, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Klar: Wir waren und sind alle müde. Dem Virus ist das egal. Es wird nicht müde. Wir müssen diesen Teufelskreis stoppen. Und wenn das nur durch Ausgangsbeschränkungen geht, nun gut, dann ist das eben so.
"Schlimmes Déjà-Vu"
La Libre Belgique sieht das ähnlich. Plötzlich wird ein Lockdown wieder zu einer Option. Das Tabu wurde gebrochen. Im Juni war das noch undenkbar. Dahinter steckt wohl die Erkenntnis, dass nur ein allgemeiner Elektroschock noch helfen kann. Der muss quer durch die Gesellschaft gehen, um uns dazu zu bringen, unser Verhalten zu ändern und endlich die Goldenen Regeln einzuhalten. Wir dürfen uns nicht unserem Schicksal ergeben.
Wir erleben hier ein schlimmes Déjà-Vu, noch ein bisschen schlimmer als beim ersten Mal, meint Het Nieuwsblad. Und wie beim ersten Mal ist die Liste der Problempunkte lang. So lang, das einen fast der Mut verlässt. Die neue Teststrategie stellt mal eben das ganze System auf den Kopf. Denn jetzt gerät das Tracing in Gefahr. Wir stochern wieder im Nebel. Im Ansatz mag es eine pragmatische Lösung sein; nur zielgerichtete Tests sind im Moment wirklich machbar. Und doch ist dieser Richtungswechsel besonders bitter.
"Verzweifelt gesucht: eine Corona-Strategie"
Das Ganze war noch dazu begleitet von einem ausgewachsenen Kommunikationspatzer, analysiert De Standaard. Allen voran die Hausärzte mussten den Strategiewechsel quasi aus der Zeitung erfahren. Schuld war offensichtlich ein Presseleck. Das sollte der Equipe um Alexander De Croo und Franck Vandenbroucke eine Warnung sein. Denn, nicht vergessen: Die Glaubwürdigkeit einer Regierung währt nur, bis zu dem Moment, in dem man neue Entscheidungen trifft.
"Verzweifelt gesucht: eine Corona-Strategie", giftet seinerseits Het Laatste Nieuws. Die letzten acht Monate waren geprägt von Irrungen und Wirrungen. Und daran hat auch die neue Regierung nichts geändert. Wahllos werden da Zutaten zusammengerührt: eine Prise Tests, eine Messerspitze Farbbarometer und dann noch ein Hauch Ausgangssperre. Nur weiß offensichtlich niemand, was wir da gerade backen wollen. Und das Rezept ändert sich auch regelmäßig. Jetzt gilt ja plötzlich eine neue Teststrategie. Nach wie vor haben wir keinen Plan. Und auch keine Vision. Unsere Corona-Strategie ist eigentlich nur eine Grabbelkiste.
Erneut im Blindflug
Gazet van Antwerpen ist da nicht ganz so kritisch. In Belgien wurde bislang die Hälfte der Testkapazitäten genutzt für Menschen ohne Symptome. In unseren Nachbarländern ist dieser Prozentsatz wesentlich kleiner. Der Richtungswechsel kommt also nicht von ungefähr. Die freiwerdenden Kapazitäten können jetzt viel zielgerichteter genutzt werden, etwa für das Aufspüren von Krankheitsherden oder zum Testen von Altenheim-Personal. Diese Entscheidung ist wohlüberlegt. Und sie ist auch nachvollziehbar.
Le Soir sieht das ganz anders. Es mag gute Gründe für den Strategiewechsel geben. Nichtsdestotrotz ist das Ganze ein Fiasko, meint das Blatt. Testen, testen, testen, das war bislang die Parole. Und das entspricht auch den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Nur so kann man dem Virus Herr werden. Jetzt stehen wir vor den Trümmern unserer ersten Verteidigungslinie.
Belgien steht jetzt in der zweiten Staffel der Pandemie, genau da, wo man in der ersten Staffel auch schon war: Ein zentrales Element der Strategie funktioniert nicht (mehr). Erneut befinden wir uns im Blindflug. Zumindest sollte die Politik jetzt zu den Defiziten stehen und nicht wieder so tun, als wäre das eine Strategie. Wir erinnern uns an die Saga mit den Masken: Die wurden lange als "unnütz" bezeichnet, um zu verschleiern, dass es gar keine gab. Das hat das Vertrauen der Bürger nachhaltig erschüttert.
Roger Pint