Erzbischof Léonard hat ins Wespennest gestochen. Der Stein des Anstoßes ist seine Aussage, Aids sei eine Form von immanenter Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: die Betroffenen sind selbst daran schuld.
Die erste Feststellung: Nicht eine einzige Zeitung hat für diese Darstellung des Erzbischofs Verständnis.
Léonard ist entschieden zu weit gegangen
La Derniere Heure findet, dass ein Mann, der an der Spitze der katholischen Kirche Belgiens steht, sich eine solche gefährliche, ja sogar unverantwortliche Aussage nicht leisten darf.
Het Nieuwsblad gibt zu bedenken, dass in der Welt über 33 Millionen Menschen mit dem HIV-Virus infiziert sind und dass täglich 6000 hinzu kommen. Längst nicht alle haben sich durch ein riskantes Sexualverhalten mit Aids infiziert. Gerade in den Entwicklungsländern entwickelt sich die Krankheit rasend schnell, weil unzählige Kinder zur Prostitution gezwungen werden. Wenn der Erzbischof in diesem Zusammenhang von Gerechtigkeit spricht, dann muss die Frage erlaubt sein, welcher Gott für eine solche Gerechtigkeit steht.
Zum gleichen Thema schreibt Gazet Van Antwerpen: Léonard ist ein Mann, der sagt, was er denkt. Anscheinend sind Mitgefühl und Barmherzigkeit in seiner Kirche Fremdworte. Wer Aids hat, ist seines Erachtens dafür selbst verantwortlich. Und was ist dann mit jenen, die das Virus durch eine Bluttransfusion oder durch eine Verletzung übertragen bekommen haben? Mit Kindern, die damit geboren wurden und mit Millionen von Afrikanern, die heute aidskrank sind weil sie, der katholischen Moral folgend, ungeschützten Geschlechtsverkehr hatten.
Selbst La Libre Belgique, die nicht selten Verständnis für Monseigneur Léonard aufbringt, verurteilt seine Äußerungen diesmal ohne Wenn und Aber. Léonard hat zwar das Recht, seinem eigenen Gewissen keine Gewalt anzutun, doch darf er nicht vergessen, dass seine Äußerungen zum Thema Aids unwiderruflichen Schaden anrichten können. Die katholische Lehre verdient zweifellos Respekt, doch darf sie die Entwicklung der Welt und der Gesellschaft nicht einfach ignorieren, so schlussfolgert La Libre Belgique.
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein
Het Laatste Nieuws geht mit dem Erzbischof ebenfalls hart ins Gericht, indem die Zeitung seine Aussage als unmenschlich und eines Kirchenführers unwürdig bezeichnet. Es handelt sich um eine Art mittelalterliche Verurteilung von Menschen, die das Schicksal schwer getroffen hat. Jesus von Nazareth hätte so etwas nie gesagt. Man erinnere sich seines Ausspruches im Zusammenhang mit der Ehebrecherin: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.
Auch De Morgen bezeichnet in seinem Kommentar Léonards Aussagen als blanken Nonsens und Beleidigung. Natürlich hat er wie jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung, doch muss die Frage erlaubt sein, ob ein Mann mit solchen Ansichten noch ein Recht darauf hat, aus der Staatskasse bezahlt zu werden.
Welche Gerechtigkeit für die Opfer pädophiler Priester?
Het Belang van Limburg weist darauf hin, dass der Erzbischof sich zu einem für seine Kirche höchst ungelegenen Zeitpunkt in Szene setzt. Gerade jetzt, wo die Pädophilieskandale zahlreicher Priester die Öffentlichkeit erschüttern, muss Léonard sich die Frage gefallen lassen, welche Form immanenter Gerechtigkeit man ihren Opfern denn wünschen kann.
Tiefe Risse in der Front der frankophonen Pateien
Neben diesem Thema gibt es in einigen Zeitungen auch noch Platz für politische Kommentare. So bedauert Le Soir, dass die Front der frankophonen Parteien, wie das gestrige Treffen zwischen MR, PS, cdH und Ecolo gezeigt hat, so gut wie inexistent ist. Man mag sich zwar auf eine gemeinsame Strategie für den Fall eines neuen flämischen Votums in Sachen B.H.V geeinigt haben, doch ist das ganz einfach zu wenig. Sicher zu einem Zeitpunkt, wo das weitere Schicksal Belgiens auf dem Spiel steht.
Ähnlich äußert sich zu diesem Thema auch La Derniere Heure, wenn die Zeitung schreibt, das Treffen der frankophonen Parteipräsidenten war nichts weiter als eine von eisiger Atmosphäre geprägte Show, die nicht darüber hinweg täuschen kann, dass zwischen der Liberalen MR und den übrigen frankophonen Formationen tiefes Misstrauen herrscht.
Parlament sollte sich auf seine gesetzgebende Rolle besinnen
In De Standaard wird die derzeitige Rolle des Parlaments in Abwesenheit einer neuen, handlungsfähigen Regierung kommentiert. Dazu heißt es unter anderem: Einige Parlamentarier betrachten sich als arbeitslos. Allerdings hindert sie nichts daran, auch ohne Regierung sinnvolle Arbeit zu leisten. Schließlich gehört die gesetzgeberische Arbeit zu den wichtigsten Aufgaben einer Volksvertretung. Genau diese Rolle ist in jüngster Zeit auf föderaler Ebene stark vernachlässigt worden. Das derzeitige Machtvakuum sollte Anlass dazu sein, sie wieder aufzunehmen.
Archivbild belga