N-VA-Chef Bart De Wever hat ja gestern einseitig das Ende der Verhandlungen über eine neue Staatsreform verkündet, was von fast allen Zeitungen ausgiebig kommentiert wird. Das Ereignis stellt das zweite große Thema heute fast in den Schatten, nämlich das definitive Ende von Opel Antwerpen.
Ein nötiger Schritt?
"All das für nichts", titelt heute L'avenir. "Wieder bei null", meint Het Belang van Limburg auf Seite 1. Het Laatste Nieuws rechnet vor: "114 Tage, ein Informateur, ein Präformateur, zwei Vermittler, sieben Parteien und … null Resultat".
Seit gestern ist die Krise amtlich. N-VA-Chef Bart De Wever hat die Verhandlungen über eine neue Staatsreform - zumindest in ihrer jetzigen Form - einseitig für beendet erklärt. Für Gazet van Antwerpen war dieser Schritt vielleicht nicht wünschenswert, aber nötig. Die Verhandlungen lagen seit Wochen im Koma, wurden nur künstlich am Leben erhalten, ohne Hoffnung auf Besserung. Es musste also etwas passieren. Muss man dafür De Wever lobpreisen? Nein, aber so wie bisher konnte es ganz einfach nicht mehr weitergehen.
Wer trägt die Schuld?
"Und was jetzt?" fragt sich Het Nieuwsblad auf seiner Titelseite. Die Antwort steht im Innenteil: "Niemand hat auch nur den blassesten Schimmer." In seinem Leitartikel räumt das Blatt aber mit einer Verschwörungstheorie auf: Für die Frankophonen ist der gestrige Schritt der N-VA Teil einer perfiden Strategie: Die flämischen Nationalisten hatten von Anfang an die Absicht, nur den Beweis für die Unregierbarkeit des Landes zu erbringen. Das ist Unsinn, meint Het Nieuwsblad, und noch dazu viel zu einfach. Niemand hat einen so langen Atem, um 114 Tage so zu tun, als ob. Vielmehr ist es so, dass auf beiden Seiten von Anfang an Fehler gemacht wurden. N-VA und PS haben beide mitunter den Eindruck vermittelt, dass sie es nicht uneingeschränkt ernst meinen.
La Libre Belgique sieht das ähnlich, wobei das Blatt klarstellt: Die Hauptschuld trägt ganz eindeutig Bart De Wever. Er ist der Architekt der Blockade. Wenn er von Kompromissbereitschaft spricht, dann ist das nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Dennoch ist die Verantwortung für die unverantwortliche Situation kollektiv: Auf flämischer Seite haben sich die anderen Parteien die ganze Zeit über hinter der N-VA versteckt und ihr damit das Heft in die Hand gedrückt. Und die Frankophonen haben sich von den Nationalisten vor sich her treiben lassen. Sie habe sich darauf beschränkt, auf die immer neuen N-VA-Forderungen zu reagieren, und das in Ermangelung einer eigenen Konzepts, eines Gegenmodells. Den Frankophonen hat es einfach an einer Zukunftsvision gefehlt.
Eine ungewohnte Rolle …
Andere stellen sich dann doch mehr oder weniger unverhohlen die Frage nach den wahren Absichten von Bart De Wever. Het Laatste Nieuws nennt ihn in seinem Leitartikel den "Mann, der nicht ja sagen will". Diese Haltung kann man aber erklären: Es ist offensichtlich, dass die N-VA auf ihre neue Rolle nicht vorbereitet war. Früher konnte sich die Partei darauf beschränken, am Spielfeldrand zu bleiben und von dort aus herumzupoltern. Am 13. Juni landete De Wever dann urplötzlich auf dem Sitz des Piloten. Und dann musste man von jetzt auf gleich das Kostüm des romantischen Volksnationalisten ablegen und sich zum Staatslenker wandeln. Dass man dann auch noch Elio Di Rupo das Heft in die Hand drückte, hat den allgemeinen Eindruck dann nur noch untermauert.
… oder doch Starrsinn?
Auch De Standaard stellt sich die Frage, ob Bart De Wever zu Kompromissen in der Lage ist. Es ist mitunter einfacher, den Stecker rauszuziehen, als seiner Parteibasis darzulegen, warum man dieses oder jenes Zugeständnis gemacht hat. Hinzu kommt: Dass die N-VA jetzt den Zähler plötzlich wieder auf Nullsetzen will, lässt tief blicken. Die Partei ist sich jetzt erst ihrer neuen Rolle bewusst geworden. Dass die Frankophonen jetzt empört aufschreien, ist nachvollziehbar: Was der Süden des Landes diesmal angeboten hat, hätte 2007 jeder flämische Unterhändler mit Kusshand unterschrieben.
Le Soir sieht das genauso. Die Frankophonen haben das Spiel mitgespielt. Das Gegenteil zu behaupten wäre unlauter. Für die Brüsseler Zeitung gibt es denn auch nur ein Schlussfolgerung: Für die N-VA gibt es nur ein Belgien nach ihren Vorstellungen - oder eben gar keins. De Wever hat es in 113 Tagen nicht geschafft, die anderen von seinen lauteren Absichten zu überzeugen. Seit gestern gibt es noch einen Grund mehr zum Misstrauen.
Ein liberales Comeback?
Bleibt die Frage: Was jetzt? Im Raum steht unter anderem ein mögliches Comeback der Liberalen. Für La Libre Belgique etwa ist es denkbar, dass MR-Altmeister Louis Michel jetzt die Bühne betritt - zumindest ist das offenbar der Wunsch der N-VA.
Für La Dernière Heure gibt es keine andere Möglichkeit, als die Liberalen hinzuzuziehen: Um Neuwahlen zu verhindern hat man keine andere Wahl, als eine neue Konstellation auszuprobieren. Wenn sich PS, cdH und Ecolo dagegen sträuben, dann verkennen sie den Ernst der Lage.
Auch für Het Belang van Limburg ist ein Hinzuziehen der Liberalen eine Option, die allerdings nach dem derzeitigen Stand der Dinge unmöglich erscheint. Die MR verlangt nämlich, dann auch an den Regierungen auf Teilstaatenebene beteiligt zu werden. Davon will die PS nichts wissen. Fazit: Wir stecken in einer veritablen Sackgasse.
Und was ist mit Opel Antwerpen?
Das ganze Theater hat das zweite große Thema quasi völlig in den Schatten gestellt: General Motors hat gestern das definitive Aus von Opel Antwerpen verkündet. Auch die letzten 1.200 Beschäftigten landen damit auf der Straße. Und doch waren alle Augen nur auf die Pressekonferenz von Bart De Wever gerichtet, beklagt De Morgen in seinem Leitartikel. Das lässt tief blicken. Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte eigentlich absolute Priorität haben; stattdessen kümmert man sich hierzulande nur um das Schmierentheater in der Rue de la Loi. Fazit: das Land hat die Politiker, die es verdient.
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