"Experten kritisch über politische Exit-Strategie: 'Wir sind nicht bereit für eine zweite Welle'", schreibt Het Nieuwsblad auf Seite eins. "Kein Plan, um zweite Covid-Welle zu managen", heißt es bei Le Soir. "Empfehlungen der Experten kaum oder überhaupt nicht gefolgt", so die Schlagzeile von Gazet van Antwerpen auf ihrer Titelseite.
Seit gestern sind die Berichte der GEES, also der Expertengruppe, die die politischen Verantwortlichen in der Corona-Exit-Strategie berät, einsehbar. Und damit ist nachvollziehbar, wie oft die Politik den Ratschlägen der Gesundheitsexperten, gefolgt ist – oder eben nicht.
Gazet van Antwerpen greift in ihrem Kommentar die Todesopfer in den Alten- und Pflegeheimen auf. Von 4.800 Corona-Toten in Flandern sind 3.000 in den Altersheimen zu beklagen. Und trotzdem sind die in fünf Berichten gerade einmal acht Mal erwähnt worden. Und dann auch meistens nur kurz.
Das scheint eine Art kollektive Blindheit zu bestätigen für die Dramen, die sich in den Alters- und Pflegeheimen abgespielt haben. Wir waren immer schnell dabei, auf die anderen, größeren Sorgenkinder zu blicken: die Krankenhäuser, die Wirtschaft, die Schulen, den Schock durch den Lockdown.
Zweifellos sind hunderte Bewohner dieser Heime unnötig früh gestorben. Und die Berichte der GEES enthalten auch eine dringende Empfehlung: Es muss noch viel passieren, um eine zweite Corona-Welle beherrschbar zu machen. Die wird erneut die Älteren besonders bedrohen. Dieses Mal sind wir ihnen aber eine effizientere Vorgehensweise schuldig, fordert Gazet van Antwerpen.
Wir brauchen weder Schecks noch Freifahrten
Auch Het Nieuwsblad kommt auf die Maßnahmen gegen eine zweite Corona-Welle zurück: Kaum ein Experte hat nicht davor gewarnt, dass wir uns einen zweiten Lockdown wirklich nicht leisten können. Deswegen muss man alles dafür tun, dass es nicht dazu kommt. Wenn uns die Politiker wirklich ein Geschenk machen wollen für unseren Bürgersinn, dann brauchen wir keine Horeca-Schecks oder SNCB-Freifahrten.
Stattdessen sollten alle finanziellen Mittel in die Vermeidung einer zweiten Welle gesteckt werden. Wenn sich Politiker wirklich beliebt machen wollen, sollten sie dafür sorgen, dass wir ein mehr oder weniger normales Leben führen können, empfiehlt Het Nieuwsblad.
Apropos SNCB-Freifahrten: Natürlich ist hier Einiges schiefgelaufen, Stichwort mangelnde Absprachen, Stichwort Sicherheitsbedenken, hält Het Belang van Limburg fest. Aber: Die Maßnahme würde die öffentlichen Verkehrsmittel und den Tourismus im eigenen Land fördern.
Menschen, die noch nie den Zug genommen haben für einen Tagesausflug, würden das vielleicht ausprobieren. Und könnten sogar Geschmack daran finden. Außerdem wären es wahrscheinlich die Schwächsten der Gesellschaft, die dieses Angebot nutzen würden. Für sie könnte es so doch noch ein schöner Sommer werden. Ein bezahlbarer und sorgloser Ausflug an die Küste – auch das kann Solidarität sein, meint Het Belang van Limburg.
Tatkraft statt Wahlkampfsprache
La Libre Belgique beschäftigt sich mit der Suche nach einer Föderalregierung. Werden wir eines Tages eine Regierung haben? Niemand kann wirklich eine Antwort auf diese Frage geben. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Nach all den bereits verworfenen Ideen scheint eine Regierung der nationalen Einheit die beste Lösung, also eine Koalition aller Parteien, außer denen am äußersten rechten und linken Rand.
Auch der PS-Vorsitzende Paul Magnette scheint seine Basis auf Verhandlungen mit der N-VA vorzubereiten. Das ist mutig. Mut bedeutet unter den heutigen Umständen nicht, auf Abstand zu gehen, sondern auf den Gegner zuzugehen. Zum Wohle aller Belgier, fordert La Libre Belgique.
Für De Standaard ist die rettende Kavallerie weiterhin nicht in Sicht. Auch wenn der PS-Chef die Idee einer Vivaldi-Koalition begraben hat, stehen die Chancen für ein Zweckbündnis zwischen frankophonen Sozialisten und flämischen Nationalisten nicht gut. Aber was sollten vorgezogene Neuwahlen bringen? Eine weitere Zersplitterung der Wählerschaft, wie zu befürchten, würde den heutigen politischen Stillstand nur zementieren.
Belgien sehnt sich nach einem Regierungsabkommen, um für die Herausforderungen in Sachen Haushalt, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt, Gesundheit und auch Gemeinschaftspolitik gerüstet zu sein. Die Politiker müssen dringend ihre Wahlkampfsprache eintauschen gegen vertrauenerweckende Tatkraft, wünscht sich De Standaard.
Alle Grundsätze über Bord geworfen
La Dernière Heure kommt in ihrem Leitartikel auf die Black-Lives Matter-Demonstration in Brüssel zurück beziehungsweise auf deren Konsequenzen. Nachdem uns die Politiker vor einem viralen Tschernobyl gewarnt hatten, wenn wir die Corona-Regeln nicht befolgten, wurden durch die Duldung dieser Demonstration alle Grundsätze über Bord geworfen.
Aus der Zehner-Regel ist die Zehntausender-Regel geworden. Warum weiterhin große Jahrmärkte verbieten? Oder Fußballspiele mit 10.000 sitzenden Zuschauern? Die Antwort ist einfach: Weil das Virus noch immer hier ist, erinnert La Dernière Heure.
Auch für das GrenzEcho ist das Verhalten der Demonstranten ohne Zweifel fragwürdig. Der Regierung jedenfalls wird es jetzt noch schwerer fallen, die Hygiene- und Abstandsmaßnahmen glaubwürdig zu erklären und durchzusetzen.
Genauso schwer werden sich Polizei und Staatsanwaltschaft tun, eventuell verhängte Strafen angesichts des Grundsatzes, wonach alle vor dem Gesetz gleich sind, vor Gericht geltend zu machen, befürchtet das GrenzEcho.
Boris Schmidt