"Ein Jahr nach den Wahlen – Konturen einer 'großen Koalition' zeichnen sich ab", schreibt De Morgen auf Seite eins. "Das belgische Modell, unsere institutionelle Lasagne, hat seine Grenzen aufgezeigt", bringt La Libre Belgique ein Zitat des CDH-Vorsitzenden Maxime Prévot auf ihrer Titelseite. "Vertrauen in die Politik geht steil abwärts", so die Schlagzeile bei De Standaard.
Fast genau ein Jahr ist es her, dass in Belgien gewählt worden ist. Und bekanntermaßen haben wir noch immer keine echte Regierung auf föderaler Ebene. Und jetzt, da die Corona-Epidemie unter Kontrolle scheint, wird das Thema Regierungssuche immer prominenter.
Es sollte ein "Fest für die Demokratie" werden. Was wir stattdessen bekommen haben, ist ein Drama für die Demokratie, so Het Belang van Limburg. Noch immer keine vollwertige Regierung. Und die Regierung Wilmès ist zeitlich begrenzt und sicher auch nicht ideal, um die Post-Corona-Wirtschaftskrise anzugehen. Mehr Klarheit würden auch Neuwahlen wohl nicht bringen.
Aus einer Umfrage von VRT und De Standaard geht hervor, dass die Flamen extremer wählen würden – rechts und links. Noch schlimmer: 45 Prozent der Befragten geben an, sich von keinem Politiker vertreten zu fühlen. Das demokratische Defizit war also nie größer. Die Politiker sollten jetzt solange zu Hause bleiben, bis sie eine Regierung zustande gebracht haben, der Bürger findet das Ganze nämlich nicht mehr zum Lachen!, fordert Het Belang van Limburg.
Ein "Gefühl der Dringlichkeit" reicht nicht
Verdammt noch mal, wir durchleben gerade die schwerste gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise des Jahrhunderts, schlägt auch Gazet van Antwerpen mit der Faust auf den Tisch. Und der CD&V-Vorsitzende Joachim Coens spricht von einem "sense of urgency", einem "Gefühl der Dringlichkeit", das die Politik habe. Und das soll uns zufriedenstellen? Es wäre ja wohl schlimm, wenn die Politiker nicht mal das hätten. Ein "Gefühl der Dringlichkeit" reicht nicht, die politisch Verantwortlichen müssen den zwingenden Willen haben, zusammenzuarbeiten und das Land durch die Krise zu lotsen.
Und wenn wir uns mit einem "Gefühl" begnügen müssen, dann doch bitte zumindest ein Gefühl des Verantwortungsbewusstseins – nicht für die Parteiinteressen oder die Anzahl der Stimmen. Sondern für das Wohl der Menschen. Sie sollten sich ein Beispiel an den Bürgern nehmen, die aus einem Verantwortungsgefühl für die eigene Zukunft und die der anderen heraus hart und aufopferungsvoll arbeiten, giftet Gazet van Antwerpen.
Das Vertrauen in die Regierenden ist dahin, meint auch das GrenzEcho. Nach den gesundheitlichen Bedenken rücken immer stärker die ökonomischen Aspekte in den Vordergrund. Hunderttausende Belgier könnten ihre Jobs verlieren. Mit dem bekannten Schneeballeffekt für die Staatskasse und die Sozialsysteme. Entschlossenes politisches Handeln ist gefragt. Weder Neuwahlen, noch eine Notregierung sind eine Alternative. Eine Regierung der nationalen Einheit wäre das Gebot der Stunde. Leider schlug diese Stunde bereits vor einem Jahr. Die Coronakrise lässt die Alarmglocke nur noch lauter schrillen, beklagt das GrenzEcho.
Ist die Katze eine Katze?
La Libre Belgique kommt auf die Coronavirus-Schutzmaßregeln zurück. Beziehungsweise auf deren schrittweise Aufhebung. Darf man dies? Darf man das? Jeden Tag müssen sich selbst bestens informierte Bürger diese Fragen stellen. Der Grund: Unklarheit nach jeder neuen Ankündigung. Jüngstes Beispiel: das Chaos um die Jugend- und Sportlager. Oder die Unterschiede bei der Wiederaufnahme des Unterrichts zwischen dem Norden und Süden des Landes.
Ihren Höhepunkt erreicht die Abwesenheit klarer Botschaften und einheitlicher Politik aber beim Maskentragen. Je nach Bereich gelten hier für jeden andere Regeln. Eine einheitliche Maskenpflicht würde zum Beispiel Händlern und Kunden helfen. Die schrittweise Aufhebung des Lockdowns bringt zwangsläufig Inkohärenzen mit sich. Aber die Aneinanderreihung von Widersprüchen sorgt für unnötige Verwirrung bei den ohnehin schon zutiefst verunsicherten Bürgern, warnt La Libre Belgique.
Mit den Mundschutzmasken in einem anderen Kontext befasst sich auch Het Nieuwsblad. Nämlich mit der Saga um die föderalen Masken, die großteils immer noch nicht geliefert worden sind. Der Staat hatte mehr Vertrauen in eine Firma ohne Homepage und ohne Telefonnummer als in die belgische Bekleidungsindustrie. Die von einem in Malta wohnhaften Jordanier gegründet wurde. Und die von einem franko-italienischen Fußballmakler vertreten wird, der nebenher noch mit afrikanischen Rohstoffen handelt.
Belgische Firmen wurden abgelehnt, weil sie nicht garantieren konnten, die verlangten Mengen an Masken pünktlich zu liefern. Es gibt ja den Spruch, dass es egal ist, welche Farbe eine Katze hat, solange sie die Mäuse fängt. Nur dass im vorliegenden Fall das Haus nach zwei Wochen noch immer voller Mäuse ist und unklar ist, ob die ausgesuchte Katze tatsächlich eine Katze ist, kritisiert Het Nieuwsblad.
Europa zwischen den Fronten
De Morgen blickt schließlich auf die zunehmenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China. In beiden Ländern sind Führer an der Macht, die ein großes Interesse daran haben, von ihren innenpolitischen Fehlern beim Umgang mit der Corona-Krise abzulenken. Da kommt ein äußerer Feind gerade recht. Und ein neuer Kalter Krieg könnte Europa sauer aufstoßen.
Wir mögen zwar geografisch nicht mehr an der Frontlinie liegen, wirtschaftlich aber sehr wohl. Durch die Auslagerung vieler Wirtschaftszweige sind wir in großem Maße abhängig von den USA und von China. Das macht uns verwundbar, wenn die Großmächte wieder Teile-und-herrsche spielen, befürchtet De Morgen.
Boris Schmidt