"Wir dürfen uns wieder besuchen", titeln Het Belang Van Limburg und De Tijd. "Endlich dürfen wir unsere Liebsten wiedersehen", steht bei La Dernière Heure auf Seite Eins. Und L’Echo bedankt sich und schreibt: "Wilmès großzügige Geste zu Muttertag".
Ausnahmslos alle Zeitungen nehmen heute auf ihren Titelseiten Bezug auf die gestrige Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates, die nächste Phase des Exit-Plans einzuläuten, sprich: die Geschäfte wieder zu öffnen. Im Zentrum des Interesses steht aber, dass jede belgische Familie ab Sonntag bis zu vier Personen treffen darf. Bei aller vorsichtigen Freude über die sozialen Kontakte die damit, unter Einschränkungen, wieder erlaubt sind, drücken andere Zeitungen auf die Euphoriebremse.
De Morgen zum Beispiel schreibt: Wir nehmen damit auch ein Risiko auf uns. "Jeder muss begreifen, dass das schnell schiefgehen kann", zitiert die Zeitung einen Biostatistiker. Aber auf der anderen Seite, so ein Psychologe: "Die Lockerung wirkt hoffentlich gegen die gestiegene Angst und die depressiven Gefühle".
Wir werden schwedisch
De Standaard glaubt: "Besuchsrecht wird zur Achillesferse des Exit-Plans". Die Zeitung schreibt: Es fehlt eine klare Ansage über die Grenzen und die Risiken, und sie befürchtet, das könne den Exit gefährden. In ihrem Leitartikel glaubt die Zeitung: Wir werden ein bisschen schwedisch. Mit der Lockerung verlässt Belgien das südeuropäische Corona-Regime des Zwangs und tritt dem nordeuropäischen Regime der Eigenverantwortung bei. In Schweden, so ist zu hören, hat die Bevölkerung so viel Vertrauen in ihre Regierung, dass sie die Regeln aus freien Stücken befolgt. Soziale Kontrolle übernimmt dann den Rest. Wir Belgier hingegen scheinen gerne nach jedem kleinen Weg zu suchen, Regeln zu umgehen. Jetzt müssen wir zu verantwortungsvollen Bürgern werden.
Durchdacht und schlau
Für Het Nieuwsblad ist der Stichtag Muttertag von entscheidender Bedeutung. Denn die größte Angst und Sorge ist, dass wir jetzt kreuz und quer umherlaufen und das Virus sich wieder verbreiten kann. Weil aber Muttertag ist, stehen wir unter Druck, uns für die Familie zu entscheiden. Das macht auch die Nachverfolgung im Falle einer Ansteckung einfacher. Aber einfach ist die Krise für keinen. Und auch nicht die Entscheidung, wer die vier glücklichen Personen sein sollen. Aber im Kampf gegen das Virus ist das durchdacht und schlau.
Symbolisches Datum
Auch L’Echo findet die Wahl des Datums richtig: Die Wirtschaft über die Familie zu stellen, hat nach dem letzten Nationalen Sicherheitsrat für einen Sturm der Kritik gesorgt. Das ist jetzt korrigiert worden. Die Erlaubnis, wieder soziale Kontakte zu knüpfen, bleibt zwar begrenzt, findet aber am Muttertag und einen Tag vor der Eröffnung der Geschäfte statt. Das ist schon symbolisch.
Image aufpoliert
Le Soir beschäftigt sich in seinem Leitartikel eingehender mit Premierministerin Sophie Wilmès. Nach einer sowohl in Form als auch in Inhalt katastrophalen und ungenügenden Pressekonferenz nach dem letzten Nationalen Sicherheitsrat am 24. April, gibt es nach der gestrigen nichts zu meckern. Wilmès hat das Image der Politiker wieder aufpoliert. Sie hat bewiesen, dass ein Premierminister kein aufgeklärter absolutistischer Despot ist, sondern jemand, der sicherlich Entscheidungen trifft, aber hört und vor allem zuhört, die grundsätzlichen Ziele über sein Ego stellt und seinen Kurs korrigiert, wenn es offenkundig nötig ist und das Interesse der Bürger es verlangt. Die Premierministerin hat ihren Teil des Vertrags erfüllt, jetzt ist es am Bürger, das ebenfalls zu tun.
Aufgestauter Druck entwichen
De Morgen lobt die Premierministerin mit einem kleinen Wortspiel: "Keine Powerpoint, aber to the point", auf den Punkt. Wilmès begann die Pressekonferenz mit einem Witz über sich selbst, anschließend folgte ein berechtigter Seitenhieb auf die Deadline-Obsession der Medien und schließlich ein Mea Culpa. Ein großer Teil des Drucks, der sich in der Beziehung zwischen den Bürgern und ihren Politikern aufgestaut hatte, war damit entwichen. Alleine mit diesem Ansatz hat Frau Wilmès gezeigt, dass sie über Qualitäten verfügt, die viele ihrer weitaus erfahreneren Kollegen in den vergangenen Wochen nicht gezeigt haben: Einsicht, Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit, Empathie. Die Krise ist damit noch lange nicht abgewendet, und das politische System damit auch nicht stabiler geworden. Aber es ist zumindest schon mal das.
Verantwortungsvolle Freiheit
La Libre Belgique stellt fest: Diese Pandemie erfordert Konzepte, die manche schon als altmodisch abgetan haben. Respekt und Bürgersinn. Indem die Regierung einen Teil der Verantwortung an die Bürger delegiert, stellt sie einen stillschweigenden aber unentbehrlichen Vertrag auf zwischen uns und dem Staat. Wir sollen in Freiheit leben, nicht überwacht, aber in verantwortungsvoller Freiheit. Das Gelingen des Exits und die Rückkehr zu einem fast normalen Leben ist eine Angelegenheit von uns allen. Oder wie es Het Laatste Nieuws heute auf seiner Titelseite ausdrückt: "Gesunder Menschenverstand ist unser bester Impfstoff".
Volker Krings