"Jambon I – N-VA, CD&V und OpenVLD schließen nach 127 Tagen ein Koalitionsabkommen", titelt nüchtern Gazet van Antwerpen. "Die Regierung Jambon I ist endlich auf den Schienen", schreibt L'Echo. Mehr als vier Monate nach den Wahlen steht das neue flämische Regierungsabkommen. "Endlich", denn Flandern war der letzte Teilstaat, der noch keine Regierung hatte.
In der ersten politischen Analyse sind sich die Zeitungen weitgehend einig: "Jambon I schwenkt nach rechts", titelt etwa Het Belang van Limburg. De Morgen formuliert es etwas anders: "Die Schwedische Koalition biegt rechts ab". Einige Zeitungen gehen aber etwas mehr ins Detail: "Ein sozialer Ruck nach rechts", schreibt etwa De Standaard. Neuankömmlinge in Flandern werden jedenfalls für Jahre erstmal nicht in den Genuss von Sozialleistungen kommen. Für Le Soir legt Flandern einen "identitären Rechtsruck" hin. Auffallend ist ja eine Reihe von symbolischen Maßnahmen, die die flämische Identität stärken sollen; ein Bespiel ist die Entscheidung, dass die Bürgermeisterschärpen jetzt auch gelb-schwarz sein dürfen, im Gegensatz zur bisherigen belgischen Trikolore. "Das ist die Antwort der Regierung Jambon auf das Unbehagen der Wähler", notiert De Tijd auf Seite eins.
"Eine unsichtbare Partei im Raum"
Einige Leitartikler werden deutlicher: "Eine vierte Partei war im Raum", meint etwa De Standaard. Und diese vierte, unsichtbare Partei, das war natürlich der rechtsextreme Vlaams Belang. Die drei Koalitionspartner hatten den Belang wohl sehr oft im Hinterkopf. Herausgekommen ist denn auch ein hartes Regierungsprogramm, ein klarer Rechtsruck. Mit einer sozialen Komponente, denn man weiß, dass viele Wähler auch deshalb ihre Stimme den Rechtsextremisten gegeben haben, weil das Wahlprogramm des Vlaams Belang durchaus einen sozialen Anstrich hatte. Man kann den Koalitionsvertrag auf eine Formel bringen: "Besser für 'unsere Menschen', strenger für 'die Anderen'". Die Antwort von Jambon I auf das Unbehagen ist nicht besonders warmherzig.
Auch Le Soir sieht die "unsichtbare Hand des Vlaams Belang". Zunächst die positiven Aspekte: Man kann der alten und neuen flämischen Koalition nicht eine gewisse Ambition absprechen. Was aber stört, das ist der Unterton, der in dem 300 Seiten starken Koalitionsvertrag über weite Strecken herauszulesen ist. Warum müssen Migranten für ihren Einbürgerungskurs bezahlen? Warum haben Neuankömmlinge erst nach zehn Jahren Anrecht auf alle Sozialleistungen? Warum will Flandern das föderale Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung, Unia, verlassen? Die drei Parteien wollen wohl damit beweisen, dass sie "das Signal des Wählers verstanden haben". Die Frage ist nur: Wie weit ist man da noch bereit, zu gehen. Und ist Abschottung wirklich die Lösung?
Unia - "Wer Kritik übt, wird an die Kette gelegt"
Vor allem die Entscheidung, Unia zu verlassen, macht De Morgen richtig wütend. Hiermit erfüllt die neue flämische Regierung die erste Priorität des berüchtigten 70-Punkte-Plans, den seinerzeit der rechtsextreme Vlaams Blok aufgestellt hatte. Das ist die Rache dafür, dass das föderale Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung den Flamen immer mal wieder zum Rassisten gestempelt hat. Das passt zu einem allgemeineren Eindruck, der da wäre: "Wer Kritik übt, der wird an die Kette gelegt". Bei all dem muss man sich fragen, warum CD&V und OpenVLD da mitmachen. Sie wollten offensichtlich "Schlimmeres vermeiden", dass das als politische Strategie nicht reicht, das zeigt die jüngere Vergangenheit.
"Doch wird der Staat auch liefern müssen", gibt De Tijd zu bedenken. Auf der einen Seite scheint die neue flämische Regierung eine Mauer rund um die Soziale Sicherheit errichten zu wollen. Für diejenigen, die in den Genuss von Sozialleistungen kommen wollen, wird die Latte hochgelegt. Das gilt insbesondere für Neuankömmlinge. Nur: Mit mehr Pflichten müssen eigentlich auch mehr Rechte einhergehen. Konkret: In dem Moment muss Flandern weiter engagiert Rassismus bekämpfen. In diesem Zusammenhang passt die Entscheidung, Unia zu verlassen, eigentlich nicht ins Bild.
"Punks" und Untere Mittelklasse
L'Echo kann dem Ganzen doch anscheinend Positives abgewinnen. Allen voran Strippenzieher Bart De Wever will wohl dem Vlaams Belang das Wasser abgraben. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die ganz deutlich auf die Untere Mittelklasse zugeschnitten sind. Also auf die Menschen, die sich kulturell und wirtschaftlich abgehängt fühlen; ob nun zu Recht oder zu Unrecht. Jedenfalls kann man etwa bei den dänischen Sozialisten das gleiche beobachten: Auch sie wollen der Unteren Mittelklasse das Gefühl geben, dass man ihre Interessen vor Augen hat. Und so besetzt man wieder ein politisches Feld, das man zu lange den Populisten überlassen hatte.
Es ist ein strenges Regierungsabkommen, kann auch Het Belang van Limburg nur feststellen. Die Botschaft: Jeder muss arbeiten, jeder muss sich integrieren, jeder muss Niederländisch lernen. Ab jetzt sollen knallharte Regeln gelten. Für die, die neu sind in Flandern; für die, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen. Sogar für Studierende werden die Regeln verschärft. Gebote und Verbote produzieren aber häufig eine Gegenbewegung; bald wird es vielleicht wieder Punks geben.
"Kontinentalverschiebung"
Het Nieuwsblad und Het Laatste Nieuws stellen sich ihrerseits die Frage, wo eigentlich das Geld herkommen soll für die ganze Reihe an Reformen und Neuerungen. Das Haushaltsgleichgewicht ist offensichtlich nicht die erste Sorge von Jambon I, beklagt Het Laatste Nieuws. Wieder werden die Schulden also auf die kommenden Generationen abgewälzt. Und wer glaubt, dass man so viele neue Arbeitsplätze schaffen kann, dass "sich das schon ausgleicht", der betrügt sich selbst. Die Regierung Jambon I legt die Latte hoch; nur nicht für sich selbst.
Die neue Regierung wird wohl versuchen, möglichst diskrete Sparmaßnahmen durchzuführen, meint Het Nieuwsblad. Neue Steuern sind keine Option, die wären zu sichtbar.
L'Avenir und La Libre Belgique glauben ihrerseits zu beobachten, dass die Landesteile bei alledem immer weiter auseinander driften. Flandern geht einen resolut anderen Weg als die beiden anderen Regionen. L'Avenir spricht von "Kontinentalverschiebung". Durch Maßnahmen wie die Abschaffung der Wahlpflicht bei den Kommunal- und Provinzwahlen entsteht mehr denn je der Eindruck, dass sich der Graben zwischen den Landesteilen noch vergrößert. Beide Zeitungen sind sich einig: Das Zusammenleben in diesem Land wird immer schwieriger, bis hin zu unmöglich.
Roger Pint