"Je suis Julie", titelt Het Belang van Limburg auf Französisch. "Trauern wegen des Undenkbaren", schreibt Het Laatste Nieuws auf Seite eins.
Nach wie vor tiefe Betroffenheit nach dem gewaltsamen Tod von Julie Van Espen.
Die Leiche der 23-jährigen Studentin war am Montag in der Nähe von Antwerpen entdeckt worden. Ein 39-jähriger Verdächtiger hat die Tat inzwischen gestanden. Dieser Steve Bakelmans ist ein Wiederholungstäter. Bereits zwei Mal wurde er wegen Vergewaltigung zu einer Haftstrafe verurteilt, zuletzt 2017. Er musste die Strafe aber zunächst nicht antreten, da er Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte.
Einige Zeitungen wissen inzwischen auch mehr über den Tathergang: "Sie wurde geschlagen und gewürgt", schreibt Gazet van Antwerpen auf Seite eins. "Sie wehrte sich, hatte aber keine Chance", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad. Er habe aber nicht die Absicht gehabt, Julie zu töten, soll der Verdächtige ausgesagt haben.
Für Empörung sorgt aber vor allem die Tatsache, dass der mutmaßliche Täter überhaupt auf freiem Fuß war. "In Antwerpen kamen alle Missstände der Justiz zusammen", stellt De Standaard auf seiner Titelseite fest: zu wenig Personal, aber auch eine ineffiziente Arbeitsweise. De Tijd sieht den Fehler nicht in fehlenden Mitteln: "Es gab genug Personal, hier geht es allein um Effizienz", schreibt das Blatt auf Seite eins. Die Schlagzeile von La Libre Belgique liest sich wie ein Fazit: "Die Justiz sitzt jetzt auf der Anklagebank". De Morgen fordert seinerseits ein grundsätzliches Umdenken: "Macht den Kampf gegen sexuelle Gewalt zur Priorität!"
Die Empörung der Bürger
Was die Frage nach der Verantwortung angeht, sind die Zeitungen hin- und hergerissen: Vor allem die frankophonen Blätter sehen den Fehler in den unzureichenden finanziellen und materiellen Mitteln.
Was die Menschen empört, das ist die Tatsache, dass die Justiz wohl nicht dazu im Stande ist, die Bürger wirklich zu schützen, meint etwa Le Soir. Ihre Mission wird aber erheblich erschwert durch den Umstand, dass ihr nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stehen. Der Justizapparat ist in einem jämmerlichen Zustand. Gleiches gilt im Übrigen für die Gefängnisse.
Jetzt zeigt sich, dass die Sparmaßnahmen im Justizwesen durchaus Auswirkungen haben auf den Alltag der Bürger, meint auch L'Avenir. Der Mord an Julie Van Espen mag dafür der traurige Beweis sein. Zwar kann man den Justizminister nicht unmittelbar für die Fehler verantwortlich machen, die zu der Tragödie geführt haben. Nur ist es eben die Politik, die den finanziellen Rahmen definiert. Entsprechend trägt Geens durchaus die politische Verantwortung. Es wäre auch nicht verkehrt, wenn er deswegen zurücktreten würde.
Dass es mehr als zwei Jahre dauert, ehe sich ein Berufungsgericht mit einer Akte beschäftigt, und dass ein verurteilter Sittentäter für diese Zeit auf freiem Fuß bleibt, das ist nicht zu vermitteln, meint auch L'Echo.
Das Problem ist nicht neu, schlimmer noch, die Situation verschlechtert sich: Die Justiz verfügt im Moment über weniger Geld als im Jahr 2011. Es gibt schlichtweg nicht genug Personal. Fast alle Parteien versprechen in ihren Programmen eine Refinanzierung. Hoffentlich erinnern sie sich daran auch nach der Wahl.
Ein beschämendes Schwarzer-Peter-Spiel
Andere Zeitungen stellen sich mehr oder weniger deutlich die Frage, ob der Fehler nicht auch bei der Justiz liegt: Die Mühlen der Justiz mahlen hierzulande viel zu langsam, stellt La Libre Belgique fest.
Woran liegt das? Ist es wirklich der Mangel an personellen und materiellen Mitteln? Oder liegt es vielleicht doch an der Faulheit der Magistrate? Einige Richter dürften wohl in den nächsten Nächten schlecht schlafen. Einige Politiker sollten aber auch mal in sich gehen.
Die Justiz macht es sich hier zu einfach, glaubt ihrerseits De Tijd: Die Gerichte verweisen jetzt reflexartig auf den Mangel an personellen und materiellen Mitteln, um den Aktenrückstau zu rechtfertigen. Sie sollten lieber mal den Fehler bei sich selbst suchen.
Auch der Widerstand der Magistrate gegen jegliche Veränderung schadet der Effizienz. Dass die Justiz unabhängig ist, bedeutet nicht, dass sie auch ihre gesellschaftliche Verantwortung ablegen darf. Dass sich Justiz und Politik jetzt gegenseitig die Schuld an dem Fiasko geben, das ist aber das eigentliche Drama. Dieses Schwarzer-Peter-Spiel ist einfach nur beschämend.
De Standaard sieht das genauso: Zu Recht schlagen jetzt die Emotionen hoch. Klar gehörte der mutmaßliche Täter hinter Gitter. Dass jetzt aber niemand dafür verantwortlich sein will, dass Steve Bakelmans doch auf freiem Fuß war, das sorgt auch für ein desaströses Bild.
Natürlich haben beide Seiten Argumente. Natürlich kann etwa ein Justizminister nicht unmittelbar Einfluss nehmen auf die Arbeitsweise der Gerichte. Das Ganze vermittelt aber den Eindruck, dass in diesem Land niemand am Steuer sitzt.
Die Schuldfrage ist im vorliegenden Fall unbequem, glaubt Het Nieuwsblad. Das Schlimme ist nämlich, dass in dieser Akte alle Schritte logisch, nachvollziehbar und gesetzeskonform abgelaufen sind. Und doch wurde Julie ermordet. Tragischer als eine offensichtliche Panne ist die Feststellung, dass das System versagt hat.
Da hilft nur eine Reform des Strafrechts. Wiederholungstäter müssen viel intensiver begleitet und notfalls auch schneller weggesperrt werden können. Der Politik muss aber auch klar sein, dass das seinen Preis hat.
Die Lektion, die wir lernen müssen
Het Laatste Nieuws sieht es genau anders herum: Der Tod von Julie ist nicht die Folge eines Systemfehlers. Es ist auch nicht die Schuld des Justizministers. Ermordet wurde sie von einem kranken Geist. Würde Julie heute noch leben, wenn Bakelmans im Gefängnis gesessen hätte? Ja.
Aber vielleicht hätte der Mann dann eben nach seiner Entlassung zugeschlagen. Dann wäre eine andere Julie das Opfer geworden. Man kann solche Tragödien leider nicht verhindern. Eine Gesellschaft, die Straftäter für immer wegsperrt, ist unzivilisiert. Eine Gesellschaft, die nicht ihr Möglichstes tut, um das Risiko auf eine Wiederholungstat zu begrenzen, ist unvorsichtig und fahrlässig. Das ist die Lektion, die wir lernen müssen.
Roger Pint