"Der nationale Streik legt die großen Unternehmen lahm", titelt De Tijd. "Acht von zehn großen Betrieben wurden durch Streikende gestört", bemerkt auch Het Laatste Nieuws auf Seite eins. Bei Gazet van Antwerpen steht derweil scheinbar das Gegenteil: "In sieben von zehn Unternehmen hat niemand gestreikt", titelt das Blatt. Diese Zahl kommt vom flämischen Arbeitgeberverband Voka. Dieser Widerspruch erklärt sich wohl dadurch, dass zahlreiche Industriegebiete blockiert wurden - was dann eben nicht notwendigerweise bedeutet, dass auch in den jeweiligen Betrieben gestreikt wurde.
Die Gewerkschaften sprechen in jedem Fall von einem "vollen Erfolg". "Es war vielleicht nicht die 'Mutter aller Streiks', aber der Impact war erheblich", so fasst es De Standaard zusammen.
Frage ist natürlich, wie es jetzt weitergehen soll. "Zurück an den Verhandlungstisch?", fragt sich etwa das GrenzEcho.
"Auch nach dem Streik bleibt der soziale Horizont düster", so derweil schon die Einschätzung von L'Echo.
Politik taub gegenüber Wut und Zukunftsängsten
Im Grunde haben beide Seiten recht, die Gewerkschaften und auch die Arbeitgeber, glaubt Gazet van Antwerpen. Die Unternehmen und auch die Regierung können Zahlen präsentieren, die zu beweisen scheinen, dass die Kaufkraft in den letzten Jahren durchaus gestiegen ist. Aber auch die Gewerkschaften haben Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass die Betriebe in den letzten Jahren satte Gewinne einfahren konnten. Sie wollen auch ein Stück vom Kuchen, nicht nur die Krümel.
Bei alledem gibt es aber ein Problem: Belgien ist keine Insel. Die Lohnentwicklung hierzulande kann nicht einfach von der in den Nachbarländern abgekoppelt werden.
Hier geht es vielleicht weniger um Zahlen als um einen Eindruck, glaubt sinngemäß L'Avenir. Was alle Demonstranten verbindet, die in den letzten Wochen auf die Straße gegangen sind, das sind Gefühle von Frust, Wut und Zukunftsängsten.
Ob nun Klimademonstranten oder Gewerkschaften: Beide empfinden Ungerechtigkeit und Ohnmacht.
Beide stoßen aber gleichermaßen auf taube Ohren bei der Politik. Wenn die herrschende Klasse die Demonstranten weiterhin von oben herab betrachtet, dann sind bald alle auf der Straße, ungeachtet der Farbe ihrer Westen, so L'Avenir.
Het Laatste Nieuws sieht vor allem einen Faktor, der bei den Bürgern den Eindruck erwecken kann, dass das Leben unverhältnismäßig teurer geworden ist: die Stromrechnung.
Zahlen mögen beweisen, dass die Kaufkraft nicht abgenommen hat. Wenn die Kosten für Strom aber um satte 75 Prozent gestiegen sind, dann entsteht ein anderer Eindruck.
Zumal jetzt, wo der Klimaschutz plötzlich in den Vordergrund zu rücken scheint. Viele Familien haben plötzlich Angst, dass sie am Ende die Zeche zahlen müssen.
Droht eine "gigantische" Sanierung?
Gestern ging es aber wohl um mehr als nur die Kaufkraft, glaubt Het Nieuwsblad. Der Protest der Streikenden richtete sich wohl gegen die Politik der Föderalregierung in ihrer Gesamtheit. Kein Wunder, dass denn auch kein Minister wirklich Verständnis aufbringen wollte.
Der gestrige Streik war eine Faust gegen Vieles, wofür die Regierung steht. Wie mächtig diese Faust war, das werden wir am 26. Mai bei den Wahlen sehen. Dann wird sich zeigen, wie viele Bürger wirklich die Einschätzung der Gewerkschaften teilen.
Das GrenzEcho sieht in alledem ein grundsätzliches Problem unserer Epoche: Man muss die Betriebe konkurrenzfähig machen, das Steuersystem insbesondere dem Internet-Zeitalter anpassen und der Arbeit ihre Würde zurückgeben. Diese Gleichung ist nur schwer zu lösen, erst recht für eine geschäftsführende Regierung.
Und zu allem Überfluss ziehen weitere dunkle Wolken auf: Die nächste Regierung wird nur einen sehr kleinen Handlungsspielraum haben, titelt L'Echo.
De Tijd formuliert es noch drastischer: "Die nächste Regierung steht vor einer gigantischen Sanierung", so die Schlagzeile auf Seite eins. Nicht nur, dass der Haushalt entgleist ist - jetzt wurden auch die Wachstumsaussichten nach unten korrigiert.
Laut einer Projektion des Plan-Büros könnte sich das Haushaltdefizit im Jahr 2024 bei unveränderter Politik auf zwölf Milliarden Euro belaufen. Da sind Sparmaßnahmen oder neue Steuern nicht zu vermeiden.
Irgendwie drehen wir uns im Kreis, meint de Tijd sinngemäß in ihrem Kommentar. Wieder steht wohl eine Sparrunde an. Und keine Regierung konnte irgendwann mal eine schwarze Null schreiben. Dafür gibt es nur einen Grund: Der Staat gibt nach wie vor strukturell zu viel Geld aus.
In Franckens Welt gibt es zweierlei Maß
Viele Zeitungen beschäftigen sich heute auch mit dem Auftritt von Theo Francken im Parlament. Der ehemalige Staatssekretär für Asyl und Migration musste sich gestern im zuständigen Ausschuss für die so genannte Visa-Affäre rechtfertigen.
Im Mittelpunkt steht der Vorwurf, dass die ihm unterstellten Dienste allzu freigiebig humanitäre Visa an syrische Christen vergeben haben. Teilweise soll da auch Geld geflossen sein.
Francken selbst verteidigte seine Politik, konnte längst aber nicht jeden überzeugen, sind sich die meisten Zeitungen einig.
Im Grunde gab es gestern nochmal den Beweis dafür, dass in der Welt von Theo Francken mit zweierlei Maß gemessen wurde, findet Le Soir. War es nicht Francken, der die Möglichkeit von Familienzusammenführungen eingeschränkt hat? War es nicht Francken, der Nicht-Regierungsorganisationen indirekt des Menschenschmuggels bezichtigt hat?
Von einem Staatssekretär darf man erwarten, dass für alle dieselben Regeln gelten.
Das alles kollidiert auch mit dem Image, das sich Francken geben wollte, meint auch Het Belang van Limburg. Der "Aufräumer vom Dienst", der noch weißer wäscht als weiß…
Selbst, wenn er am Ende persönlich nicht für die Missstände verantwortlich gemacht werden kann, hat diese Bild wohl fette Kratzer abbekommen.
Was wir jetzt sehen, ist nur ein jämmerlicher Abklatsch der muskulösen Politik, die Francken immer darstellen wollte, giftet auch De Morgen.
Daraus lernen wir auch, dass ein Regierungsmitglied vielleicht doch keine Bücher schreiben und den ganzen Tag twittern sollte. Politiker werden bezahlt, um ihre Augen auf den Ball zu richten und nicht auf soziale Netzwerke.
Roger Pint