"Die Regierung lebt noch, aber die Krise schwelt weiter", titelt L'Echo. "Die Regierung ist noch nicht gerettet", schreibt auch De Tijd auf Seite eins. Het Belang van Limburg formuliert es drastischer: "Die Exekution der Regierung Michel wurde aufgeschoben", so die Schlagzeile auf Seite eins.
Der gestrige Tag hat so manchen Beobachter überrascht. Allgemein war der Sturz der Regierung befürchtet worden. Gestern gab es nämlich gleich zwei Ereignisse, die die N-VA im Vorfeld als "Rote Linie" definiert hatte.
Zum einen verabschiedete der zuständige Parlamentsausschuss eine Resolution, in der ausdrücklich die Unterstützung für den UN-Migrationspakt bekundet wird. Das Votum kam über eine so genannte Wechselmehrheit zustande: Die Regierungspartei N-VA stimmte dagegen, stattdessen votierten Teile der Opposition dafür.
Und mit dieser Resolution im Rücken reist Premierminister Charles Michel zum anderen jetzt nach Marrakesch. Beide Szenarien hat die N-VA im Vorfeld als "casus belli" bezeichnet. Und doch hat die Partei die Regierung gestern nicht verlassen. "Der 'Zirkus Michel' schleppt sich weiter", so das vernichtende Urteil von Het Laatste Nieuws.
Regierungskrise – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
"Die N-VA verliert eine Schlacht, aber der Krieg geht weiter", stellt derweil De Standaard fest. Zugleich hat die N-VA nämlich eine neue rote Linie ausgegeben: Der formale Akt der Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes, der findet nämlich erst am 19. Dezember in New-York statt. Dann droht also eine Neuauflage der Auseinandersetzung.
"Noch zwei Wochen Krise", so denn auch die fast schon deprimierte Schlagzeile von Gazet van Antwerpen. Viele Leitartikler haben für die gestrigen Ereignisse nur Kopfschütteln übrig. Wenn man seine Meinung ändert, dann kann man das als Kurve bezeichnen, manchmal auch als Kehrtwende. Was wir hier sehen, das ist aber ein Karussell, meint etwa De Morgen.
Die N-VA wollte die Konfrontation, hat dabei aber zwei kapitale Fehler gemacht. Erstens: Die Ablehnung gegen den Migrationspakt kam viel zu spät. Und zweitens: Wer auf Konfrontationskurs geht, der muss auch bereit sein für einen wirklichen Crash. Die N-VA war das offensichtlich nicht. Und die Folge ist, dass man die eigene Glaubwürdigkeit gegen die Wand gefahren hat.
Zu allem Überfluss hat die N-VA mit ihrer rechtsextrem angehauchten Kampagne im Grunde die extreme Rechte nur wieder zum Leben erweckt. Sie hat in Panik versucht, einen Brand mit Öl zu löschen. Und jetzt ist das Feuer außer Kontrolle.
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich. Regel Nummer eins bei Verhandlungen lautet: "Stelle keine Drohung in den Raum, wenn du nicht bereit bist, sie auch wahr zu machen". Die N-VA, die jahrelang wegen ihres taktischen Gespürs in den Himmel gelobt worden ist, hat diese Grundregel mit Füßen getreten. Die markigen Drohungen sind verpufft, die N-VA bleibt sitzen.
Was wir hier sehen, das ist eine neue Variante des Belgier-Witzes: Die Regierung ist gestürzt, aber noch nicht auf dem Boden aufgeprallt. "Könnte jemand dieses beschämende Trauerspiel jetzt bitte beenden?", fordert Het Nieuwsblad.
Absurd und grotesk
"Was für ein absurdes Theater!", meint auch Het Laatste Nieuws. Zwei rote Linien hatte die N-VA gezogen. Beide wurden gestern überschritten. Und doch ist die N-VA immer noch Teil der Regierung. Selbst der N-VA-Fraktionschef Peter De Roover, eigentlich ein geübter Rhetoriker, konnte den Schleuderkurs in Interviews nicht wirklich plausibel erklären. Man darf davon ausgehen, dass eine solche Partei es künftig schwer haben dürfte, auf frankophoner Seite noch Partner zu finden.
Auch Le Soir reibt sich die Augen: Was wir gestern gesehen haben, war regelrecht grotesk. Die N-VA wollte doch alles anders machen. Aha! Anders! Heißt "anders", dass man die Regierung mit einem Ultimatum in Gefahr bringt, um dann doch drin zu bleiben? Heißt "anders", dass man der eigenen Koalition mit einer Kampagne in den Rücken fällt?
Heißt "anders", dass man sich dabei einer Bildsprache bedient, die auch schon die rechtsextreme AfD benutzt hat? Heißt "anders", dass ein Parteichef mit dem Ende der Regierung droht, um dann weinerlich zu erklären, dass er keine Krise will? Die N-VA hat den Kredit, den sie sich mühsam aufgebaut hat, gerade wieder verspielt.
Das Image der N-VA ist nachhaltig beschädigt, findet auch De Tijd. Das weiß die Partei. Und das verheißt nichts Gutes. Es steht zu erwarten, dass die N-VA jetzt wie ein angeschossenes Tier für ihre Glaubwürdigkeit kämpfen wird.
N-VA in der Identitätskrise?
Vielleicht sehen wir hier ein Phänomen der imperialen Überdehnung, meint De Standaard. Die N-VA ist zu groß geworden. Und irgendwann ist es wohl ihr Anspruch geworden, möglichst für alles zu stehen, wovon man denkt, dass der Wähler das will. Man glaubt am Ende vielleicht sogar, dass man den Willen des Volks quasi inkarniert. Frage ist nur, ob eine solche Partei noch eine eigene Identität hat und ob sie am Ende nicht ihre Ideale aufgibt.
Auch Gazet van Antwerpen hat den Eindruck, dass die N-VA an ihre strukturellen Grenzen stößt. Das fokussiert sich auf die Person Bart De Wever. Seine Positionierung als Parteichef kann zuweilen schädlich sein für seine Koalitionsverhandlungen als alter und neuer Bürgermeister von Antwerpen. Diese schizophrene Position ist auf Dauer nicht zu halten.
rop/jp