"Schon jetzt steigen die Stromimporte spürbar an", titelt De Standaard. "Deutschland will Belgien bei Stromknappheit helfen", bemerkt La Libre Belgique auf ihrer Titelseite.
Wieder geht das Schreckgespenst eines Blackouts um. Im November könnte das Licht ausgehen, weil zu diesem Zeitpunkt nur noch einer der sieben belgischen Kernreaktoren am Netz sein wird. Und im Grunde sind die Grenzen jetzt schon erreicht, wie De Standaard berichtet.
Gestern wurden fast 5.000 Megawatt Strom aus dem Ausland nach Belgien eingeführt. Das ist absoluter Rekord. Und viel mehr geht auch nicht, da die Kapazität der Leitungen begrenzt ist. Die föderale Energieministerin Marie-Christine Marghem ist jedenfalls schon an die großen Nachbarländer, Deutschland, Frankreich und die Niederlande herangetreten, um Hilfe für den Notfall zu erbitten. Ziel sein ein "Memorandum of understanding", sagt Marghem in De Morgen, eine Vereinbarung also, die den Notfall regeln soll. Wie La Libre Belgique berichtet, hat die Bundesrepublik Deutschland sich schon formal bereit erklärt, zu helfen.
Minister tragen nun mal eine Verantwortung
Wenn das alles nicht reicht, dann könnte es aber eng werden. Inzwischen wurde schon der so genannte Abschaltplan von 2014 wieder aus der Schublade geholt. Vor vier Jahren war das Land ja schon mal in einer vergleichbaren Situation. "Der Abschaltplan wurde aber neu austariert", notiert Le Soir auf Seite eins. Laut der ursprünglichen Fassung hätte es deutlich mehr Stromabschaltungen in der Wallonie als in Flandern gegeben. Dieses Ungleichgewicht sei jetzt korrigiert worden.
Stellt sich jetzt natürlich noch eine Frage: "Wer ist schuld an dem Debakel?" "Es ist die Schuld der Anderen", so resümiert De Standaard die Position der verschiedenen Protagonisten. Niemand, nicht Electrabel, nicht die Atomaufsichtsbehörde FANK, nicht der Hochspannungsnetzbetreiber Elia und auch nicht die Energieministerin Marie-Christine Marghem, keiner will sich den Schuh anziehen.
"Die unverantwortliche Frau Marghem"
Viele Leitartikler räumen zwar ein, dass die Problematik sehr komplex ist, schieben aber den Schwarzen Peter der föderalen Energieministerin zu. "Die unverantwortliche Frau Marghem", so etwa das beißende Urteil von L'Avenir. Electrabel die Schuld zu geben, das ist zu einfach. Natürlich kann die Ministerin nicht ahnen, wie es um den Beton in den Kernkraftwerken bestellt ist; natürlich ist sie keine Ingenieurin. Ihre Rolle ist es aber, zu antizipieren, nachzufragen, sich ein Bild zu machen. Das nennt man politische Verantwortung: proaktiv sein, um die Versorgungssicherheit des Landes garantieren zu können. Dass sie sich jetzt aus dieser politischen Verantwortung herausreden will, trägt mit Sicherheit nicht dazu bei, dass die Bürger ihren Politikern künftig mehr vertrauen.
Het Nieuwsblad sieht das genauso: "Hält uns die Regierung wirklich für blöd?". Marie-Christine Marghem spielt jetzt die Unschuld vom Lande. Alle sind schuld, nur sie nicht. Oft bemerkt sie lapidar, dass sie ja schließlich keine Ingenieurin sei. Frage ist wohl eher, ob sie den Titel Ministerin noch verdient. In vier Jahren hat sie es nicht geschafft, dem Land endlich mal eine kohärente Energiepolitik zu geben. Insofern ist sie auf dem besten Weg, zum ultimativen Maskottchen zu werden für den energiepolitischen Schleuderkurs, den Belgien seit mindestens zwei Jahrzehnten hinlegt.
"So, so, Frau Marghem ist also keine Ingenieurin", meint auch De Standaard. Das muss sie aber auch nicht sein. Bei der Zuerkennung der Ministerposten spielt die fachliche Qualifikation in der Regel eine untergeordnete Rolle. Beispiel: Ein Kulturminister muss nicht Museumsdirektor oder Balletttänzer gewesen sein. Ihr Argument ist also nicht stichhaltig. Denn wenn es relevant wäre, dann wäre die Frau im Umkehrschluss vor vier Jahren eben nicht Energieministerin geworden. Minister zu sein, das bedeutet eben die politische Verantwortung zu tragen. Mit Diplomen hat das nichts zu tun.
Wann kommt die Energiewende?
Ganze vier Energieminister zählt dieses Land, beklagt seinerseits De Morgen. Quantität ist aber offensichtlich nicht gleichbedeutend mit Qualität. Und Marie-Christine Marghem legt seit vier Jahren ein fast schon bewundernswertes Engagement an den Tag, um den Beweis dafür zu erbringen. Vier Minister, und das Resultat ist eine Nicht-Politik. Keine Vision! Mehr denn je sind wir abhängig von Engie-Electrabel. Das ist freilich nicht allein Marie-Christine Marghem zuzuschreiben; begonnen hat alles schon spätestens 2003 mit dem halbherzigen verkündeten Atomausstieg, der dann natürlich keiner war. Resultat von alledem ist jetzt jedenfalls, dass Belgien auf Knien um Strom aus dem Ausland betteln muss.
Ob im November tatsächlich das Licht ausgehen wird, das vermag derzeit noch niemand zu sagen. Wir sollten das aber als ultimativen Weckruf betrachten, so das Fazit von Het Belang van Limburg. Belgien braucht endlich ein langfristiges Energiekonzept. Die Energiewende ist offensichtlich noch nicht im Gange. Mit jedem Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, dass der Atomausstieg wieder verschoben werden muss. Insofern ist keine Entscheidung letztlich auch eine Entscheidung.
Nationalismus und/oder Multilateralismus?
Auf vielen Titelseiten sieht man heute auch den US-Präsidenten Donald Trump. Der hat sich ja gestern bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung unter anderem mit scharfen und drohenden Worten an den Iran gewandt. Einer multilateralen Weltordnung erteilte er jedenfalls eine klare Absage.
"Egozentrismus ist auf der Weltbühne offensichtlich das neue Normal", bemerkt resigniert Le Soir. "Jeder für sich", so lautet offensichtlich die Devise. Trump spricht da wohl für viele andere.
Und das ist eine dramatische Fehleinschätzung, glaubt La Libre Belgique. Nationale Souveränität und Multilateralismus schließen sich nicht gegenseitig aus. Mit dieser Position schließt sich Amerika allenfalls selbst aus, verzichtet nämlich auf seine Führungsrolle. Und dadurch wird das Aufkommen einer neuen Weltordnung nur beschleunigt, stellt das GrenzEcho fest. Der Stärkere wird eher früher als später China sein. In der Zwischenzeit aber sät Trump Chaos, meint L'Echo. Es droht eine unmoralische Weltunordnung. Den Europäern muss klar sein, dass sie ihr Schicksal schnellstens selbst in die Hand nehmen müssen.
Roger Pint