"Erneut tödlicher Wahnsinn in Lüttich", titelt La Libre Belgique. "Mörderischer Freigang", so die Schlagzeile bei Le Soir. Und De Morgen fragt sich: "Wie konnte das passieren?".
Der gestrige Anschlag in Lüttich ist das beherrschende Thema in den Zeitungen. Ein Mann hatte drei Menschen getötet und vier verletzt, bevor er selbst von einem Spezialkommando der Polizei getötet wurde. Bei dem Täter handelt es sich um einen Gefangenen, der für zwei Tage auf Freigang war. Ein islamistischer Hintergrund wird nicht ausgeschlossen.
Le Soir kommentiert: Wir haben so getan, als ob es vorbei sei, als ob das Leben wieder normal wäre. Jetzt sehen wir, dass wir uns geirrt haben. Viele Fragen gilt es zu klären. Warum konnte der Mann, der vielfach vorbestraft war, einfach so auf Freigang gehen? Wer trägt die Verantwortung? Und so weiter. Ja, darüber muss gesprochen werden, aber jetzt sollten wir erst einmal trauern, um den neuerlichen Schmerz zu verarbeiten, rät Le Soir.
Auch De Morgen findet: Jetzt ist nicht der Augenblick, um Schuldige an den Pranger zu stellen. Trotzdem ist es merkwürdig, dass so schnell nach dem Anschlag so viele Informationen über das Gewaltpotential des Täters bekannt wurden. Unter anderem, dass er ein rückfälliger Straftäter ist und bei der Staatssicherheit als radikalisiert gilt. Wenn das doch schon bekannt war, warum konnte man die Gesellschaft dann nicht besser vor diesem Mann schützen, fragt anklagend De Morgen.
Was ist falsch im System?
Het Laatste Nieuws schlägt in die gleiche Kerbe und schreibt: Wir möchten dann doch fragen, was falsch in dem System ist. Denn anscheinend kann jemand, dessen Name gleich zweimal in Berichten zur Radikalisierung bei der Staatssicherheit vorkommt, einfach so Freigang erhalten. Ist die Information nicht zu den Leuten vorgedrungen, die über den Freigang entschieden haben? Sollten wir das normal finden? Die Hinterbliebenen der Opfer beschäftigen sich vor allem mit einer Frage: Warum konnte der Mann frei rumlaufen? Sie verdienen eine äußerst gründliche Antwort, fordert Het Laatste Nieuws.
De Standaard analysiert: Der Täter scheint ein typisches Resultat der belgischen Gefängniskultur zu sein. Statt sich vernünftig auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorzubereiten und ihre dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen, bleiben Gefängnisinsassen ihrem kriminellen Milieu treu. Statt in unseren Gefängnissen geheilt zu werden, radikalisieren sie sich.
Und in den Gefängnissen scheint man das nicht zu sehen. Kein Sozialarbeiter, Psychologe oder Direktor hat anscheinend bemerkt, wie gefährlich der Lütticher Täter eigentlich ist. Die Minister für Inneres und Justiz, Jan Jambon und Koen Geens, können sich schon mal warm anziehen, prophezeit De Standaard.
La Libre Belgique notiert: Die Radikalisierung in unseren Gefängnissen ist ein großes Problem: Die Islamisten versuchen nicht mehr, so viele Mitinsassen wie möglich von ihrem Hass gegen den Westen zu überzeugen. Sie suchen sich gezielt labile und von der Gesellschaft enttäuschte Mitgefangene aus. Die werden dann zu unberechenbaren menschlichen Bomben, wie jetzt in Lüttich. Es müssen unbedingt Maßnahmen getroffen werden, um diese Radikalisierungen in Gefängnissen zu stoppen. Belgische Gefängnisse dürfen nicht zu Brutplätzen der Dschihadisten werden, mahnt La Libre Belgique.
Terroranschlag oder doch "nur" Amoklauf"?
L'Avenir hingegen stellt den islamistischen Hintergrund in Frage und führt aus: Offiziell ist das noch gar nicht bestätigt. Der Tathergang weist eigentlich gar nicht darauf hin, denn er ist völlig atypisch. Zunächst zwei Polizistinnen, dann ein scheinbar wahllos ausgesuchter junger Mann, dann die Geiselnahme in einer Schule: Das sieht eher nach der blutigen Tat eines Kriminellen aus, der einfach nur abgeschlossen hat mit der Gesellschaft, als nach der Tat eines Islamisten, glaubt L'Avenir.
Das GrenzEcho schreibt: Ob der Täter, wie gestern von Zeugen behauptet wurde, bei seiner Bluttat "Allahu akbar" gerufen hat, oder nicht, ist nebensächlich. Fakt hingegen ist, dass in immer regelmäßigeren Abständen meist jüngere Männer zur Waffe greifen und oft wahllos um sich herum Menschen verletzen oder töten. Und sich dabei auf einen Gott berufen, von dessen Wesen sie aber offensichtlich nicht allzu viel verstanden zu haben scheinen, kritisiert das GrenzEcho.
L'Echo fragt: Wenn die Tat tatsächlich von einem Radikalisierten verübt worden ist – wie kann man erreichen, dass sich die belgische Gesellschaft nicht selbst radikalisiert um gegen diesen blutigen Terror vorzugehen? In vielen europäischen Ländern ist diese Tendenz schon zu beobachten. Parteien mit plakativen Forderungen und ausländerfeindlichen Parolen bekommen immer mehr Zulauf. Doch Radikalisierung mit Radikalisierung zu beantworten, das darf nicht sein, findet L'Echo.
Italien und Europa
De Tijd beschäftigt sich mit Italien und führt aus: Staatspräsident Mattarella hat den Euro und Europa ins Zentrum der kommenden Neuwahlen gestellt. Weil er den euroskeptischen Finanzminister Paolo Savona verhindert und dadurch die Regierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung unmöglich gemacht hat, ist es zu dieser Zuspitzung gekommen. Das könnte gefährliche Folgen haben, notiert besorgt De Tijd.
Kay Wagner