"Die Nachbarländer ärgern sich über den belgischen Umgang mit dem nuklearen Leck", titelt Gazet van Antwerpen. Im Kernkraftwerk Doel ist es vor einigen Tagen zu einem Zwischenfall gekommen: Am 23. April wurde ein Leck im primären Kühlkreislauf des Reaktorblocks Doel 1 festgestellt, also im nuklearen Teil der Anlage. Der Vorfall wurde aber erst knapp eine Woche später der Föderalen Agentur für Nuklearkontrolle (FANK) mitgeteilt. Eigentlich muss das spätestens nach zwei Tagen erfolgen.
Innenminister Jan Jambon übte deswegen gestern in der Kammer auch scharfe Kritik am Betreiber Engie Electrabel. Der besteht aber darauf – und die FANK bestätigt das –, dass keine Gefahr für Umwelt oder die Bevölkerung bestanden habe. Die Nachbarländer, allen voran Deutschland und die Niederlande, fühlen sich indes in ihren Sorgen und Ängsten bestätigt, wie die Zeitung berichtet. Demnach bezeichne die deutsche Presse Doel 1 unverhohlen als "Schrottreaktor".
So so, keine Gefahr für die Bevölkerung also, meint Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Sind die Sorgen in unseren Nachbarländern also unbegründet? Nicht ganz. Wenn es einen Bereich gibt, über den schnell und glasklar kommuniziert werden muss, dann ist das die Sicherheit in Atomkraftwerken. Im vorliegenden Fall kam die Information aber viel zu spät. So irrational das auch klingen mag in den Ohren von Spezialisten, die tagtäglich mit Kernenergie zu tun haben, aber Nukleartechnik macht den Menschen Angst. Und nach der Serie von kleinen und größeren Zwischenfällen in belgischen Kernanlagen ist es verständlich, dass sich die Nachbarländer Sorgen machen.
Spatzen-Alarm und Einzelhandels-Malaise
Beängstigende Schlagzeile auf Seite eins von Le Soir: 95 Prozent der Spatzen sind aus Brüssel verschwunden. Die Naturschützer der Vereinigung Natagora läuten die Alarmglocke: Innerhalb der letzten 25 Jahre ist die Spatzenpopulation in der Hauptstadt dramatisch eingebrochen, eben um 95 Prozent. Als wichtigste Gründe gelten Umwelteinflüsse wie die Luftverschmutzung.
"Die Malaise im Einzelhandel weitet sich aus", schreibt La Libre Belgique auf Seite eins. In der Tat: Nach den Streiks beim Discounter Lidl droht jetzt ein Drama bei der Mestdagh-Gruppe. Die betreibt in Belgien etwas mehr als 80 Supermärkte, und zwar unter dem Label "Carrefour". Für Montag hat die Direktion die Gewerkschaften zu einer außerordentlichen Sitzung des Betriebsrates einberufen. Befürchtet wird eine Umstrukturierung, wohl verbunden mit einem Stellenabbau. La Libre beleuchtet heute die Hintergründe der allgemeinen Krise im Einzelhandel.
Uneinigkeit im Cockpit
Viele Zeitungen beschäftigen sich auch mit der gestrigen Rede von Premierminister Charles Michel im EU-Parlament: "Ein Pro-Europäer, aber weder einfältig noch naiv", so zitiert etwa Le Soir die Worte des föderalen Regierungschefs. Geprägt war die anschließende Debatte aber vor allem von innenpolitischen Themen. L'Echo bringt es auf den Punkt: "Die Belgier leisten sich eine belgo-belgische Auseinandersetzung".
Belgien würde gerne im europäischen Cockpit sitzen, analysiert De Standaard in seinem Leitartikel. Charles Michel war sehr bemüht, seine pro-europäischen Überzeugungen an den Mann und an die Frau zu bringen. Das Problem war nur, dass er seine ehrgeizigen europäischen Ambitionen nicht mit klaren Standpunkten untermauern konnte. Seine Aussagen waren häufig "nicht Fleisch, nicht Fisch". Der Grund liegt auf der Hand: Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. So wie Michel dem selbsternannten Europäer Macron nacheifert, so hält es die N-VA mit den EU-skeptischen Niederländern. Wenn der Pilot nach Paris will und der Kopilot nach Amsterdam, dann sollte das Flugzeug besser am Boden bleiben.
Der Premier hat uns da gestern eine Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen präsentiert, findet auch La Libre Belgique. Viel mehr als eine Sonntagsrede war es nicht, Michel blieb in vielen zentralen Punkten vage. Prickelnd wurde es erst, als die belgischen EU-Parlamentarier dem Premier innenpolitische Themen vor die Füße warfen. Solche Debatten hatten im Europäischen Parlament zweifelsohne nichts verloren. Allenfalls mochte das ablenken von der Tatsache, dass Charles Michel wegen der EU-skeptischen Haltung der N-VA einen Drahtseilakt vollziehen musste.
Das scheint ihm sogar noch gelungen zu sein, analysiert Het Belang van Limburg. Das muss man erst einmal hinkriegen: Michel bekam Lob sowohl vom Muster-Europäer Guy Verhofstadt, als auch vom N-VA-Abgeordneten Sander Loones. Das mag aber auch ein Indiz dafür sein, wie nichtssagend die Rede des Premiers war. Offensichtlich ist seine Regierung in Bezug auf die Zukunft der EU gespaltener denn je.
Für L'Avenir äußert sich diese schizophrene Haltung auch längst in den Taten der Regierung: Nicht umsonst kritisierten EU-Abgeordnete der Sozialisten und Grünen den "tiefen Graben zwischen der Rede im EU-Parlament und der tatsächlichen Politik der Regierung in Belgien". Pionier der europäischen Integration, das war einmal. Jetzt ist Belgien Vorreiter in Sachen schlechte Luftqualität oder bei der übertriebenen Besteuerung von Arbeit. Anspruch und Wirklichkeit liegen eben manchmal weit auseinander.
Druck auf die vierte Säule der Demokratie
Das GrenzEcho beschäftigt sich schließlich mit dem gestrigen Tag der Pressefreiheit: Es ist schlecht bestellt um die Pressefreiheit. Das gilt auch für Westeuropa, wobei man die Situation hier natürlich nicht vergleichen kann mit Ländern, in denen Journalisten für die schiere Ausübung ihrer Arbeit hinter Gittern landen oder für ihre Courage mit dem Leben zahlen. Bedroht ist die Freiheit der Medien bei uns vor allem dadurch, dass die Unabhängigkeit durch die wirtschaftlichen Zwänge in Bedrängnis gerät. Die vierte Säule der Demokratie funktioniert nur, wenn Journalisten ihre Arbeit verrichten können, möglichst frei von Druck, Zwängen und Einflussnahmen.
Roger Pint