"Jüdischer Kandidat stürzt die CD&V in die Krise", titeln Het Nieuwsblad und Gazet van Antwerpen. "Die CD&V verschluckt sich bei der Jagd auf jüdische Stimmen", so die Schlagzeile von De Tijd.
Auf vielen Titelseiten sieht man heute Fotos von Aron Berger. Der Mann trägt Hut, Bart und dunkle Kleidung: Berger ist ein ultraorthodoxer Jude, ein sogenannter Chassidim. Das steht für eine besonders strenge Variante des Judentums. Aus religiösen Gründen weigert sich der Mann etwa, Frauen die Hand zu geben. Die Tatsache, dass Mädchen und Jungen in der Schule nicht strikt getrennt werden und zusammen im Unterricht sitzen, bezeichnet er als "Kindesmisshandlung".
Was aus der Sache ein Politikum macht, ist der Umstand, dass dieser Aron Berger auf der Liste der CD&V bei der Kommunalwahl in Antwerpen antreten soll. Die Personalie sorgt dann auch innerhalb der flämischen Christdemokraten für hitzige Diskussionen und empörte Stellungnahmen. Ein Kandidat, der die Grundwerte der Partei nicht teile, habe keinen Platz in der CD&V, ließen sich einige namhafte Parteimitglieder zitieren.
Am Ende musste die Parteispitze sogar zu einer Krisensitzung zusammenkommen. Der dabei erzielte Kompromiss steht unter anderem auf Seite eins von Het Belang van Limburg: "Jüdischer Kandidat auf der CD&V-Liste muss Frauen die Hand geben". Het Laatste Nieuws formuliert es plastischer: "Hände schütteln oder nicht willkommen". Konkret: Es liegt jetzt an Aron Berger, sich zu den Grundwerten wie der Gleichheit von Mann und Frau zu bekennen und sich auch entsprechend zu verhalten. Ansonsten verliert er seinen Listenplatz.
Es ist vor allem der CD&V-Vizepremier Kris Peeters, der an dem Kandidaten Aron Berger festhält. De Standaard umschreibt den Kompromiss denn auch wie folgt: "Peeters steht hinter Berger – es sei denn..." Zur Verdeutlichung: Kris Peeters ist Spitzenkandidat für die CD&V bei der Kommunalwahl in Antwerpen.
Opportunismus der ganz billigen Sorte
Diese Haltung ist alles andere als klug, Herr Peeters, wendet sich Het Laatste Nieuws an den CD&V-Spitzenpolitiker. Aron Berger ist ein religiöser Extremist, dafür muss man im Übrigen also kein Moslem sein, fügt das Blatt hinzu. Das hatte die CD&V offensichtlich nicht auf dem Schirm. Zu blind hat man einfach nur nach einem Stimmenfänger gesucht innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Scheldestadt. Das ist Opportunismus der ganz billigen Sorte. Zynischer geht es kaum. Und doch schafft es Peeters nicht, sich klar zu distanzieren. Seine Pirouetten sind eine Beleidigung für die Wähler und im Besonderen für die jüdische Gemeinschaft.
Was gibt es doch für Thekenstrategen in Antwerpen, meint abschätzig Het Nieuwsblad. Erst die SP.A, die auf Teufel komm raus an ihrem lädierten Kandidaten Tom Meeuws festhält. Und jetzt Kris Peeters, der auf seiner Antwerpener Einkaufsliste unbedingt einen Juden haben wollte. Und der jetzt gefundene Kompromiss über Aron Berger wird wohl das Problem nicht lösen. Mal angenommen, er bekennt sich zur Gleichheit von Mann und Frau, wie wird er wohl auf Fragen zum Thema Homosexualität antworten? Muss man dann wieder eine neue Krisensitzung abhalten? Man wird immer wieder erklären müssen, dass ein chassidischer Jude kein chassidischer Politiker ist.
Mein Gott, screent doch bitte eure Kandidaten, fordert Het Belang van Limburg. Sowohl die SP.A, als auch die CD&V haben sich offensichtlich nicht die Lebensläufe der Leute, die für sie ins Rennen gehen sollen, angeschaut. Die umstrittenen Aussagen von Aron Berger waren allgemein bekannt.
Albtraum mit Ansage
Das Ganze war ein Albtraum mit Ansage, meint auch Gazet van Antwerpen. Es ist besonders naiv von der Antwerpener CD&V, zu glauben, dass man für einen Kandidaten mit einem solchen Weltbild auch noch Applaus ernten würde. Und es ist beschämend, dass sich die CD&V in dieser Sache nicht klarer positioniert.
Vielen Dank, Aron Berger!, meint seinerseits De Morgen. Und das ist nicht ironisch gemeint. Der Fall zeigt, dass die Grundwertedebatte weiter zu fassen ist. Indem Aron Berger etwa die Gleichheit von Mann und Frau nicht akzeptiert, führt er uns noch einmal die Wichtigkeit eben dieser Werte vor Augen. Dies unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung oder dem religiös-kulturellen Hintergrund.
De Standaard versucht sich in einer allgemeineren Analyse, kommt aber zu einem anderen Schluss: Was hier mitspielt, das ist die Angst vor einer feindlichen Übernahme unserer Gesellschaften durch Andersdenkende oder religiöse Eiferer und vor dem Verlust der eigenen Identität. Nach jahrhundertelangem Antisemitismus bekommt jetzt der erste ultraorthodoxe jüdische Kandidat einen Empfang voller Vorurteile und Karikaturen.
In einem Punkt sind sich allerdings alle Zeitungen einig: Der lachende Dritte, das ist in jedem Fall der amtierende N-VA-Bürgermeister Bart De Wever, der vom Rathaus aus entspannt dabei zusehen kann, wie sich seine Herausforderer selber zerlegen.
Vorsicht vor Napoleons Fußstapfen
Einige Zeitungen beschäftigen sich auch mit dem gestrigen Auftritt des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im EU-Parlament. Vor den Abgeordneten brach er insbesondere eine Lanze für eine tiefgreifende Reform der Europäischen Union, unter anderem für demokratischere Strukturen.
Macron hat dem Parlament einen kräftigen Tritt in den Hintern verpasst, findet sinngemäß L'Echo. Er hat den Abgeordneten das blaue Banner mit den zwölf Sternen buchstäblich noch einmal unter die Nase gerieben. La Libre Belgique sieht das ähnlich: Und man muss ja auch nicht notwendigerweise mit Macron einverstanden sein. Es würde ja schon mal reichen, wenn er damit eine wirkliche Debatte anstößt.
De Tijd ist da aber offensichtlich wenig zuversichtlich: Insbesondere in Deutschland scheint man längst nicht so enthusiastisch auf die Pläne des Franzosen zu reagieren, wie er es sich vielleicht erhofft hätte. Vor allem in der CDU/CSU gibt es hörbaren Widerstand. Macron ist der jüngste politische Führer Frankreichs seit Napoleon. Wenn er nicht aufpasst, erlebt er in Brüssel sein Waterloo.
Roger Pint