Einige belgische Tageszeitungen blicken nach Deutschland und kommentieren das JA der SPD-Mitglieder zur großen Koalition mit der Union unter Bundeskanzlerin Merkel. Dazu meint Le Soir: Ein Seufzer der Erleichterung dürfte zu hören gewesen sein. In Paris, in Brüssel und überall dort, wo die Pro-Europäer sind und dort, wo man überzeugt davon ist, dass Europa nur mit einem starken Deutschland nach vorne gehen kann. Die Vernunft hat bei den SPD-Mitgliedern gesiegt. Und Angela Merkel eine vierte Amtszeit verschafft. Deutschland hat eine Regierung. Ohne großen Enthusiasmus und mit vielen Anfälligkeiten, aber pro-europäisch.
Keine Zeit zu verlieren
Ein enges und kurzes Zeitfenster für eine grundlegende Reform des europäischen Projektes hat sich damit geöffnet. Ein gemeinsamer Haushalt? Ein europäischer Finanzminister? Mehr Demokratie innerhalb der Euro-Zone? Es wird nicht einfach sein, die Ideen des französischen Präsidenten Macron umzusetzen. Seit gestern Abend ist es allerdings ein bisschen wahrscheinlicher. Es gilt allerdings, keine Zeit zu verlieren. Ob die deutsch-französische Achse allerdings stark genug ist, der anderen europäischen Vision der osteuropäischen Länder Ungarn, Polen und Tschechien die Stirn zu bieten, bleibt fraglich. Vor allem in der Flüchtlingspolitik wird sich in Kürze zeigen, ob das Duo Macron-Merkel es schaffen wird, einen Wechsel herbeizuführen, so Le Soir.
La Libre Belgique zieht den Hut vor Angela Merkel, die es in eine vierte Amtszeit geschafft hat. Trotzdem scheint sie angeschlagen wie nie zu vor. Ihre eigene Partei, die CDU, arbeitet schon an ihrer Nachfolge. Und ihr Koalitionspartner, die SPD, befindet sich in freiem Fall und kämpft schlicht und ergreifend ums Überleben. Auch, wenn die große Koalition in ganz Europa als Garant für Stabilität bezeichnet wird, darf man sich nicht täuschen lassen. Die Hauptakteure wirken müde. Und werden von den 90 gewählten Bundestagsabgeordneten der rechten AFD unter Druck gesetzt. Der Endspurt der Bundeskanzlerin wird schwierig. Angesichts einer solchen Opposition wird ihre Rolle umso maßgeblicher sein, meint La Libre Belgique.
Leere Versprechungen und politischer Starrsinn
Die flämische Tageszeitung De Standaard hat neben Deutschland auch Italien im Blick. Das politische Chaos in Deutschland – Europas größte Volkswirtschaft – ist abgewendet. Heute werden wir wissen, wie der Wähler in Italien entschieden hat, der Drittgrößten Wirtschaft der Euro-Zone. Das Regierungsbildungs-Puzzle droht dort noch etwas verzwickter zu werden, als in Deutschland. So verschieden die zwei Länder auch sind, ihre Probleme haben mehr miteinander zu tun, als man auf den ersten Blick denken könnte.
Migration und Flüchtlingskrise, soziale Ungleichheit und Unsicherheit als Folge von Globalisierung und Digitalisierung waren die Themen, die Populismus und Nationalismus in Deutschland und Italien groß gemacht haben. Die traditionellen Volksparteien haben auf diese Fragen immer noch keine Antwort gefunden. Das deutsche Koalitionsabkommen beinhaltet kein einziges innovatives Projekt. Es ist ein bisschen von allem. Ambitionen und Visionen sind nicht zu finden, kommentiert De Standaard.
Zu den Wahlen in Italien schreibt Gazet van Antwerpen: Wie sie auch ausgehen mögen, eines ist so gut wie sicher: Die Chance, dass die Probleme, mit denen das Land seit Jahrzehnten kämpft, nach diesen Wahlen gelöst werden, ist äußerst klein. Hohe Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sowie ein geringes Wirtschaftswachstum - Auf all diese Herausforderungen haben die italienischen Politiker wenige bis gar keine Antworten. Die Wahlversprechen aller Parteien klingen wie ein sich gegenseitiges Überbieten um Wählerstimmen, um nach den Wahlen festzustellen, dass gar kein Geld da ist, um sie zu realisieren. Laut dem italienischen Statistikbüro Istat leben knapp acht Prozent der Italiener in absoluter Armut. Leere Versprechungen und politischer Starrsinn helfen diesen Menschen keinen Schritt weiter, mahnt Gazet van Antwerpen.
Selektive Kommunikation
De Morgen kommentiert die Kommunikation der belgischen Politik in Sachen Atomausstieg. Energieministerin Marie-Christine Marghem hinterlässt den Eindruck, dass sie das Parlament nur über Fakten und Zahlen informiert, die den geplanten Ausstieg aus der Kernenergie 2025 unterstützen. Zahlen aus denen hervorgeht, dass der Ausstieg in einer ersten Phase 76 Prozent mehr Emissionen verursachen wird, wurden dem Parlament nicht mitgeteilt. Doch auch die Art und Weise, wie die N-VA auf Marghems selektive Kommunikation reagierte, zeigt wenig Reife. Der Abgeordnete Bert Wollants sah hinter den zurückgehaltenen Zahlen den ultimativen Beweis, dass der Kernausstieg unerreichbar ist und Belgien seine Klimaschutzziele nur dann erreichen kann, wenn die Kernkraftwerke weiterdrehen.
Die Gefahr dieser politischen Spielchen ist, dass viele Bürger sich verärgert abwenden. Das ist gravierend. Der Klimawandel ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Die Diskussion darüber ist viel interessanter und vielseitiger, als Marghem und Co den Anschein geben. Die Abkehr von Kohle, Öl und Gas und der Übergang zu Windkraft, Photovoltaik, Biomasse und nicht zu vergessen mehr Sparsamkeit ist nicht weniger als eine neue industrielle Revolution, meint De Morgen.
Volker Krings