Die Gewerkschaften haben heute zu einem landesweiten Protest gegen die Rentenreform der Föderalregierung aufgerufen. Die zentrale Kundgebung findet heute Vormittag in Brüssel statt. Bis zu 50.000 Menschen werden erwartet.
Auf den Titelseiten der Zeitungen schlägt sich das Thema kaum nieder. Aber gleich mehrere Blätter greifen es in ihren Kommentaren auf.
La Libre Belgique fragt: Was wollen die Gewerkschaften eigentlich? Weitermachen wie bisher? Leider sind wir an dem Punkt angekommen, an dem etwas gemacht werden muss. Denn alle bisherigen Regierungen haben nichts unternommen, um das Rentenproblem zu lösen. Obwohl die Probleme, vor denen wir und die künftige Generation stehen, bekannt waren. Die Reformen von Rentenminister Bacquelaine sind nicht populär. Aber sie sind die einzige Hoffnung dafür, die Renten auch in Zukunft auf einem akzeptablen Niveau zu halten und gleichzeitig die Beiträge der Arbeitnehmer nicht explodieren zu lassen, meint La Libre Belgique.
Ähnlich Le Soir: Die Rentendebatte muss objektiviert werden. Und da gilt es ganz sachlich festzustellen: Die Rechnung wird immer größer. Es reicht nicht, nur das Rentenalter hochzusetzen. Andere Finanzierungsmöglichkeiten müssen her. Außerdem müssen die Unterschiede der Rentensysteme abgeschafft werden: Selbstständige, Angestellte und Beamte haben unterschiedliche Rentensysteme. Die gilt es zu vereinheitlichen. Ein Punktesystem, das die Gewerkschaften ja kritisieren, scheint da gar nicht mal so schlecht. Schließlich muss man über all das vernünftig miteinander reden, fordert Le Soir.
Immer mehr Sorge um die Rente
Das findet auch L'Avenir und schreibt deshalb verärgert: Das, was MR-Präsident Olivier Chastel gestern im Vorfeld des heutigen Protesttags von sich gegeben hat, ist genau das, was wir nicht brauchen. Pauschal sprach er von "Falschinformationen", die bezüglich der Renten von den Gewerkschaften verbreitet würden. Das ist platt und wird dem sensiblen Thema nicht gerecht. Hier geht es immerhin um die finanzielle Sicherheit der Bürger. Und schon jetzt beklagen die Gewerkschaften ja die fehlende Dialogbereitschaft seitens der Regierung. Wenn der Präsident einer der Regierungsparteien dann so reagiert, ist das schon bedenklich, kritisiert L'Avenir.
Auch Het Laatste Nieuws beschäftigt sich mit der Regierung und führt aus: Vergangene Woche haben Michel und Co. sicher ein paar Korken knallen lassen. Die Zahlen der Nationalbank waren positiver als erwartet: mehr Jobs, mehr Wirtschaftswachstum – alles unser Erfolg, findet die Regierung. Mit Blick auf die allgemein gute Wirtschaftslage in Europa kann man das auch anders sehen. Aber wenn die Regierung sich schon so lobt, dann muss sie sich doch bitte auch diese Entwicklung zu Herzen nehmen: Sieben von zehn Belgiern machen sich Sorgen um ihre Renten. Das sind mehr als beim Start der aktuellen Regierung. Und inzwischen hat die Regierung Reformen auf den Weg gebracht. Aber beruhigt hat das die Menschen nicht, notiert Het Laatste Nieuws.
Die Wirtschaftszeitung L'Echo prophezeit: Heute werden vor allem Beamte bei der Demo sein. Denn sie haben durch die geplante Rentenreform am meisten zu verlieren. Ein Punktesystem, das die Rentensysteme von Selbstständigen, Angestellten und Beamten vereinheitlicht, bedeutet gerade für die Selbstständigen einen großen Gewinn. Zurzeit bekommen Selbstständige im Durchschnitt eine Monatsrente von 800 Euro, Angestellte von 1.100 Euro und Beamte von 2.400 Euro. Eine Angleichung dieser Niveaus durch ein neues Rentensystem ist auch eine Frage der Solidarität, findet L'Echo.
Keine Hilfe für IS-Kämpfer und Fischen am rechten Rand
De Morgen kommentiert die Äußerungen von Premierminister Charles Michel und Innenminister Jan Jambon, belgischen Syrienkämpfern, die jetzt in irakischen Gefängnissen sitzen, jegliche Hilfe zu verweigern: Diese Haltung ist verständlich, aber falsch. Belgien muss sich um diese Landsleute kümmern. Das ist unser Rechtsstaat sich selbst schuldig. Außerdem ist es gefährlich, die belgischen IS-Kämpfer und ihre Familien sich einfach selbst zu überlassen und ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sie werden dann zu herumirrenden Gefährdern und bleiben damit ein Risiko, fürchtet De Morgen.
De Standaard geht auf die Forderung des CD&V-Politikers Hendrik Bogaert ein, das Tragen von religiösen Symbolen im öffentlichen Raum zu verbieten und schreibt: Nach Pieter De Crem ist Bogaert jetzt der zweite CD&V-Politiker, der mit typisch rechten Ideen auf sich aufmerksam macht. Auch OpenVLD-Chefin Gwendolyn Rutten hatte sich vor Kurzem darin versucht. Die Absicht dahinter ist klar: CD&V und OpenVLD wollen mit der N-VA um rechte Wähler konkurrieren. Aber das Fischen am rechten Rand hat auch Grenzen; und so gut, wie die N-VA das Spiel mit der "Identität" beherrscht, werden es OpenVLD und CD&V nie können, meint De Standaard.
"Shoppt belgisch"
Het Nieuwsblad kommentiert den Aufruf belgischer Unternehmensbosse, nicht mehr bei ausländischen Onlinehändler wie Amazon und Co. zu kaufen, sondern stattdessen belgische Firmen zu nutzen: Der Aufruf ist scheinheilig und peinlich. Hätten belgische Unternehmen den Online-Boom nicht verschlafen, würden wir schon längst belgische Onlinedienste nutzen. Außerdem sorgen auch ausländische Händler bei uns für Arbeitsplätze. Und bei belgischen Unternehmen ist es auch nicht sicher, dass sie mit belgischen Transportunternehmen zusammenarbeiten, ihre Callcenter in Belgien einrichten und ihre Steuern tatsächlich in Belgien zahlen, statt in irgendwelchen Steuerparadiesen, gibt Het Nieuwsblad zu bedenken.
Kay Wagner