"Das Geheimnis des Geisterzugs", titelt La Libre Belgique. "Vier Untersuchungen, um die Tragödie zu verstehen", so die Schlagzeile von L'Avenir.
Auch am Mittwoch beschäftigen sich noch viele Zeitungen mit dem ebenso tragischen wie spektakulären Zugunglück in Morlanwelz von Montagabend. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand war es so: Ein havarierter Zug wurde abgeschleppt, als sich plötzlich drei Waggons lösten, die dann führerlos losgerollt sind. Erst fuhr der Geisterzug in einen Arbeitertrupp: Zwei Gleisarbeiter wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Am Ende prallten die Waggons auf einen anderen Personenzug; auch dabei wurden nochmal mehrere Menschen verletzt.
"Der Geisterzug passierte fünf Bahnübergänge und drei Bahnhöfe, und das mit 70 km/h", so fasst Het Laatste Nieuws die Höllenfahrt zusammen. Le Soir präsentiert die "Chronologie eines schwarzen Tages für die Bahn". Die Zeitungen stellen sich viele Fragen. Die wichtigste ist natürlich: Warum konnte man den Geisterzug nicht aufhalten? Was genau passiert ist, das sollen jetzt gleich vier unterschiedliche Untersuchungen klären.
Das Ganze sorgt natürlich für viel Betroffenheit, besonders bei den Bahnbediensteten. Die Gewerkschaften ihrerseits sind wütend: "Der Druck, der auf dem Bahnpersonal lastet, ist viel zu groß", zitiert La Dernière Heure Vertreter der Arbeitnehmerorganisationen.
Morlanwelz - einfach nur Schicksal?
Für solche Schlussfolgerungen ist es zu früh, findet L'Avenir in seinem Leitartikel. Die genauen Ursachen des Unglücks kennen wir noch nicht. Denkbar ist, dass es einfach nur Schicksal war, dass jegliche Verantwortung von Mitarbeitern ausgeschlossen werden kann. Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes von einem Unglück ausgehen.
L'Echo ist anderer Meinung. Es ist eine Tatsache, dass der Arbeitsdruck bei der SNCB in den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Die immer ehrgeizigeren Produktivitätsziele können am Ende dazu führen, dass die Sicherheitsvorkehrungen in der Praxis vernachlässigt werden. Es wäre wohl auch im Sinne der Zugreisenden, wenn sie davon ausgehen können, dass sie ihr Leben in die Hände von Bahnpersonal geben, dass unter angemessenen Bedingungen arbeiten kann.
Eine sichere Bahn ist alles andere als Luxus, meint auch La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Angesichts des Unglücks von Morlanwelz einfach nur das Schicksal zu bemühen, das greift zu kurz. Die Häufung von ernsthaften Zwischenfällen in den letzten Jahren, das ist vielmehr ein Symptom. Die belgische Bahn leidet unter vielen Krankheiten: Mangelhafter Unterhalt, Investitionsstau, zügelloses Streben nach Rentabilität. Wenn die Bahn tatsächlich die Lösung für die Umwelt - und Mobilitätsprobleme sein soll, dann muss sich das schnellstens ändern.
La Dernière Heure sieht das genauso. Statt bei jeder Haushaltsrunde der Staatsbahn eine neue Rosskur zu verpassen, muss man der SNCB den Platz geben, der ihr zusteht. Konkret: Es wird Zeit, dass man die Bahn als nationale Priorität einstuft.
"Samen bleibt zusammen"
Viele flämische Zeitungen blicken derweil nach Antwerpen, wo anscheinend schon der kommunale Wahlkampf begonnen hat. "Die Liste 'Samen' schleppt sich weiter", so etwa die Schlagzeile von De Standaard. "Samen", zu Deutsch "zusammen", das ist ein Kartell; genauer gesagt ist es der Zusammenschluss zwischen den linken Oppositionsparteien im Antwerpener Stadtrat, nämlich Groen und SP.A.
Der SP.A-Spitzenpolitiker Tom Meeuws musste am Dienstag zugeben, dass auch er intensiven und freundschaftlichen Kontakt zu einem Bauunternehmer pflegt. Genau das hatte der Sozialist dem N-VA-Bürgermeister Bart De Wever vorgeworfen. Die Enthüllung hatte für spürbare Unruhe innerhalb des linken Wahl-Kartells gesorgt. Groen-Spitzenkandidat Wouter Van Besien suchte daraufhin eine Aussprache mit dem sozialistischen Kollegen. Das Resultat steht auf Seite eins von Gazet van Antwerpen: "Samen bleibt zusammen". Het Nieuwsblad zeigt seinerseits ein Foto von einem zufrieden dreinschauenden Bart De Wever mit der pikanten Schlagzeile: "Rache ist süß".
Na das fängt ja gut an, stichelt Het Laatste Nieuws. Die linke Kartell-Liste hat sich selber geschlagen. Eigentlich hätte es 3:0 stehen müssen. Gleich drei Mal hat Bart De Wever in dieser Sache Einschätzungsfehler begangen. Der schwerwiegendste war, als er die Enthüllungen über seine Anwesenheit auf der Geburtstagsparty eine Immobilienmagnaten als "lächerlich" abtat. 3:0 hätte es stehen können; stattdessen steht es jetzt 0:1.
Keine Cola für Bart De Wever?
So gewinnt man nicht gegen Bart De Wever, analysiert auch De Morgen. Wenn schon "zusammen", dann auch richtig. Es kann nicht sein, dass das Kartell bei jedem kleinsten Problem gleich daran zweifelt, ob ein Kartell wirklich eine gute Idee war.
Wer einen Bart De Wever schlagen will, der muss etwas geschlossener auftreten, mahnt auch Het Nieuwsblad. Es ist bezeichnend, dass kurz nach der Gründung des Kartells schon erste, noch dazu große Risse auftauchen. Aber auch Bart De Wever hat, vielleicht ohne es zu merken, Schwächen gezeigt. Die sichtbarste davon, die nennt man wohl Hybris: Selbstüberschätzung, Hochmut, verbunden mit Realitätsverlust. Wenn einer nicht versteht, dass selbst eine einzige Cola Zero auf der Geburtstagsparty eines Bauunternehmers problematisch ist, dann ist das nichts anderes als die Arroganz der Macht.
De Standaard sieht in dem Ganzen ein Zeichen an der Wand. Das Antwerpener Theater, das war wohl nur ein Vorgeschmack. Es sieht so aus, als bekämen wir bei der Kommunalwahl im kommenden Jahr ein fast episches Gefecht, mit geleckten WhatsApp-Mitteilungen, heimlichen Video-Aufnahmen und Gerichtsklagen. Alle funktionieren wohl nur noch nach dem Motto: Irgendwas bleibt immer hängen.
Roger Pint