Die Krise in Spanien sorgt heute für keine Schlagzeilen auf den Titelseiten. In den Kommentarspalten der Zeitungen ist sie jedoch stark präsent. Denn heute wird die spanische Zentralregierung darüber beraten, ob Artikel 155 der spanischen Verfassung aktiviert werden soll. Das würde der spanischen Regierung erlauben, die Autonomie von Katalonien aufzuheben und die Region direkt von Madrid aus zu regieren.
Dazu meint Het Laatste Nieuws: Spaniens Ministerpräsident Rajoy wittert seine Chance auf einen Platz in den Geschichtsbüchern. Dabei hat er auch den Segen seiner europäischen Kollegen. Keiner stellt sich ihm in den Weg. Alle haben ihm einen Freibrief für eigenmächtiges Handeln in der Katalonienkrise gegeben. Das kann gefährlich werden. Denn wenn Rajoy sich in Barcelona nicht ohne Gewalt durchsetzen kann, dann wird er es halt mit Gewalt machen.
Gehorsamsverweigerung? Dann fliegen Schlagstöcke und Gummigeschosse. Sollte es Opfer in Katalonien geben, werden auch die anderen europäischen Staaten daran schuld sein. Denn für die Geschichte ist auch derjenige schuldig, der geschwiegen hat, erinnert Het Laatste Nieuws.
Chance für Rajoy
Das GrenzEcho hält fest: Mit Rechtsbrechern, die sich außerdem noch einen demokratischen Anstrich verpassen, möchte Ministerpräsident Mariano Rajoy nicht verhandeln. Verfassungsrechtlich liegt er damit völlig richtig. Dennoch sollte sich die Zentralregierung ihre Haltung noch einmal gut überlegen. Denn mit eiserner Hand und der Anordnung von Neuwahlen wird die erstarkte Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien nicht wieder für die spanische Sache zu gewinnen sein.
Rajoy könnte jetzt als Versöhner auftreten und beweisen, dass er aus den Bildern prügelnder Polizisten während des Unabhängigkeitsreferendums die richtigen Lehren gezogen hat, rät das GrenzEcho.
Le Soir glaubt, dass die anderen EU-Mitgliedstaaten trotz ihres Freibriefs an Rajoy besorgt sind. Die Zeitung begründet: Alle wissen, dass Katalonien eine Art Pulverfass ist. Sollte der Konflikt zwischen den katalanischen Separatisten und dem Rest Spaniens aus dem Ruder laufen, würde das direkt eine schwere Krise in Europa auslösen. Eine Krise mit Domino-Effekt.
Eine Krise, die keiner will. Zwischen den Zeilen haben führende EU-Politiker den Spaniern das durchaus vermittelt. Die Frage ist, ob die Spanier diese Botschaft verstanden haben. Nämlich die, dass es besser wäre, die Katalonienkrise politisch zu lösen als mit aller Härte des Gesetzes, so Le Soir.
Überall Suche nach Identität
De Standaard schreibt: Überall in Europa gibt es Anzeichen dafür, dass die Menschen auf der Suche nach Identität sind. Der erstarkte Nationalismus in Polen und Ungarn, der Wahlsieg der Rechten in Österreich, die zwei Referenden zur Unabhängigkeit in Norditalien sind neben der Katalonienkrise Beispiele dafür. Hier liegt eine große Aufgabe für die Europäische Union. Sie muss begreifen, dass diese Suche nach Identität ein dynamischer Prozess ist.
Das Haus Europa kann durchaus aus unterschiedlichen Zimmern bestehen: nationale, regionale, kulturelle Identitäten neben einer europäischen. Die Kraft zu unterschätzen, die von Identitäten ausgeht, wäre ein Fehler. Es wäre auch ein Zeichen dafür, die Lehren aus der Geschichte – siehe zweiter Weltkrieg – nicht zu ziehen, mahnt De Standaard.
L'Avenir stellt zu den gestrigen Verhandlungen zum Brexit auf dem EU-Gipfel fest: Nichts bewegt sich mehr, aber man tut so, als ob alles gut sei. Das Ergebnis von gestern ist nicht überraschend. Theresa May will nicht mehr als die 20 Milliarden Euro zahlen, die britische Experten als Schuldnersumme Großbritanniens an die EU berechnet haben. Sich auf die 60 Milliarden Euro einzulassen, die die EU verlangt, wäre für May politischer Selbstmord.
Die EU-Staaten hingegen beharren darauf, erst das Finanzielle zu regeln, bevor man über die künftigen Handelsbeziehungen spricht. Auch für die EU gibt es für diese starre Haltung einen guten Grund, denn bei der Brexit-Frage haben sie eine Wohlfühl-Gemeinschaft gegründet, alle vertreten den gleichen Standpunkt. Das hält sie davon ab, Themen anzupacken, bei denen es Streit gibt: Nämlich Einwanderung, nationale Souveränität und Haushalts-Politik, analysiert L'Avenir.
Dutordoir fordert Normales
Die Wirtschaftszeitung L'Echo meint zu den Plänen der neuen Bahn-Chefin Sophie Dutordoir: Die Ambitionen von Dutordoir sind klein. Denn was fordert sie? Dass die Züge pünktlich sind, dass der Fahrgast sich wohl fühlt, dass die Angestellten zur Arbeit kommen, dass die Bahn sicher wird und so weiter. Sachen, die eigentlich normal sein sollten bei der Bahn.
Dass sie es nicht sind bei der SNCB, ist Folge von verfehlter Verkehrspolitik. Zu lange hat die Politik keinen Plan gehabt, wie sie den Verkehr in Belgien organisieren soll. Staus, schlecht funktionierender öffentlicher Nahverkehr, eine marode Bahn sind die Folgen. Wenn es jetzt bei der Bahn anders wird, wäre das schon mal ein guter Anfang, findet L'Echo.
La Libre Belgique schreibt zu den Forderungen des Anwalts von Marc Dutroux, den Kinderschänder aus der Haft zu entlassen: Der Anwalt weiß, dass er keinen Erfolg mit seinem Antrag haben wird. Vielmehr instrumentalisiert er Dutroux dafür, um auf einen Missstand hinzuweisen. Nämlich darauf, dass es Verurteilten wie Dutroux nicht möglich ist, nochmal eine zweite Chance zu bekommen.
Dieses Anliegen mag richtig sein, doch der Dutroux-Anwalt irrt sich in der Person. Denn eine vorzeitige Entlassung aus der Haft setzt Reue bei dem Verurteilten voraus. Die Einsicht, dass man etwas falsch gemacht hat. Haben wir so etwas von Dutroux schon mal gehört, fragt sich La Libre Belgique.
Kay Wagner - Foto: Javier Soriano, afp